130

jeder Staat hatte seine eigene Religion, seine Götter, denen eben dieses Volk zu eigen war. Die korrekte Uebung dieser Religion, die korrekte Verehrung der Staatsgottheiten war Angelegenheit des Staates wie Pflicht eines jeden Staatsangehörigen. Im Orient kam hinzu als zentraler religiöser Begriff die Erkenntnis Gottes. Das bedeutet engste Verbundenheit mit der Gottheit. Der Mensch kennt den Namen, d. h. das Wesen seines Gottes, und der Gott kennt und nennt bei Namen seinen Erwählten und sein erwähltes Volk. Die Existenz des Volkes ist an seinen Gott, das Dasein des Gottes an den Bestand seines Volkes geknüpft. Der Sinn der Gotteserkenntnis ist das zeigt unzweideutig der astrale Charakter der babylonischen Religion die Beherrschung und Dienstbarmachung der wirkenden Kräfte und Mächte. Denn im Mittelpunkt des religiösen Gedanken- kreises steht die Frage nach dem Schicksal. Das war im alten Israel für die volkstümliche Auffassung nicht anders als überall sonst. Wir sehen es deutlich an den von den Propheten bekämpften falschen Volksanschauungen vom Nationalgott, von der Erwählung Israels, vom Tage Gottes, von Tempel, Opferwesen und Frömmigkeit über- haupt, vom Sinn der Prophetie usw. Erst die Wirksamkeit der Propheten hat alle diese Begriffe religiös geläutert und ihnen den Inhalt gegeben, der dem jüdischen Monotheismus gemäß ist.

Die große religiöse Revolution des israelitischen Prophetismus hat, mit beispielloser Kühnheit und Wucht den Kerngehalt des israelitischen Monotheismus herausarbeitend, den Sinn der Gottes- erkenntnis von Grund aus umgestaltet und damit die soeben genannten Begriffe umgewandelt. In den Mittelpunkt des religiösen Denkens hat er nicht die Frage nach dem Schicksal sondern die Frage nach dem Sollen gestellt. Der Sinn der Gotteserkenntnis ist ihm nicht die Beherrschung der das Schicksal gestaltenden Kräfte, sondern die Erkenntnis der sittlichen Pflicht. Daß Gott Israel kennt, bedeutet den Propheten die Forderung der Verwirklichung dieses nicht naturhaften und nicht schicksalhaften Gottes- gedankens durch das gesamte individuelle wie Gemeinschaftsleben. So haben sie den Begriff Gottes geschaffen/ an den das Gemein- schaftsleben Israels gebunden ist, während sein Dasein nicht an den Bestand seines Volkes gebunden ist, das er vielmehr selbst vernichtet und vernichten muß um seines eigenen innersten Seins willen. Diese Ethisierung der Religion hat auch die Politik wie das gesamte Leben unter religiös ethische Gesichtspunkte und Forderungen gestellt und so, wenngleich anders als sonst, die Politik an die Religion, nicht aber die Religion an den Staat gebunden. Aber diese Ethisierung bedeutet zugleich eine Sublimierung der Religion und hebt sie aus allem Erden- geschehen und löst sie von Staat und Politik. Unabhängig hiervon ist sie ein Gebilde sui generis. So hat der israelitische Prophetismus das Problem Religion und Staat geschaffen.

Die Paradoxien und Antinomien dieser prophetischen Auf- fassung waren den Zeitgenossen kaum verständlich. Aus der reli- giösen Anschauung einer kleinen Anhängerschaft der Propheten ist der Prophetismus zur Religion des Volkes erst geworden durch seine geschichtliche Bestätigung durch das Exil. Es war, wie Wellhausen, einmal sagt, die Sintflut, die die Juden zu ersäufen drohte, die ihnen