Mendelssohns Anschauung vom Wesen des Judentums.

Zum 6. September 1929.

Von Albert Lewkowitz in Breslau.

Die Weltanschauung der Aufklärung steht unter einem zwiefachen kritischen Urteil: Erwies Kant die wissenschaftliche Unmöglichkeit des metaphysischen Rationalismus, der philosophischen Leistung der Aufklärung, so wandte sich die Romantik und die aus ihr hervor- gehende Geschichtswissenschaft gegen ihren Mangel an Verständnis für geschichtliche Individualität. Beide Mängel werden an der Mendelssohnschen Anschauung vom Wesen des Judentums schwer empfunden: seine Loslösung der ,,Vernunftwahrheiten von dem Eigengehalt des Judentums und seine harte, unhistorische Denkweise in der Auffassung der Offenbarung als einer supranaturalistischen einmaligen Gesetzgebung. Doch grade die Notwendigkeit des Hinaus- gehens über den Standpunkt der Aufklärung enthebt uns nicht der Verpflichtung, die große Tat der Befreiung des Geistes zu erfassen, die das Zeitalter der Aufklärung vollzogen hat, einer Befreiung, die auch für das Judentum neue Grundlagen der physischen und geistigen Existenz geschaffen hat. Eine solche historische Beurteilung wird auch der Mendelssohnschen Leistung und gerade seiner religions- philosophischen Anschauung vom Wesen des Judentums erst gerecht werden können.

Das Zeitalter der Aufklärung löst das Mittelalter erst , wirklich ab. Wohl bedeutet die Reformation eine tiefe Erschütterung des hier- archischen Systems der Kirche und der Idrchlichen Tradition durch den Rückgang auf die Bibel. Der Kern der Bibel, das Evangelium aber war auch für die protestantischen Kirchen die Heilslehre vom Sühnetod Christi. Damit waren die zentralen Dogmen der katho- lischen Kirche, die Dogmen der Trinität, der Erbsünde und der Rechtfertigung durch den Glauben das Fundament auch der neuen Kirchen geblieben. Wohl suchte hingegen die Renaissance die Freiheit des wissenschaftlichen Universalismus in der Erneuerung des von kirchlichen Einflüssen befreiten Neuplatonismus und der Stoa, in der Betonung der Unabhängigkeit des religiösen Geistes von Wort und Buchstaben der Schrift, in der Behauptung der rationalen. Selb- ständigkeit der sittlichen Erkenntnis zur Geltung zu bringen 1 . Doch dieser Geistesfrühling wurde durch die Macht der Kirchen, ins- besondere durch die Gegenreformation niedergehalten. Unter dem Hader der Religionskriege, die das 16. und 17. Jahrhundert erfüllten, schien die Stimme der Vernunft verstummt. Aber um so tiefer wurde die Sehnsucht nach Freiheit des Glaubens, nach Freiheit des Staates, nach Freiheit der Wissenschaft vom Druck der Kirche. Das Zeitalter

1 Vergl. Lewkowitz: Das Judentum und die geistigen Strömungeh~def Neuzeit. I. Die Renaissance. 1929.

Monatsschrift. 73. Jahrgang.

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