Die Bedeutung der Bibel für die Weltanschauung Herders und Goethes . 1

Von Albert Lewkowitz.

Nicht allein in den Jahrhunderten des Konfessionahsmus bildet die Bibel den wichtigsten Geistesbesitz der Menschheit, sondern auch als mit der Neuzeit, in Renaissance und Auf־ klärung das kulturelle Leben Europas sich der Leitung durch die Kirchen entzog und ein autonomes Geistesleben entfaltete, bleibt der Monotheismus der Bibel die Grundlage aller religiös-ethischen Systeme Europas. Wie sehr immer die Naturreligion der Re- naissance und die Vernunftreligion der Atifklärung als wissen- schaftliche Weltanschauungen den Offenbarungsreligionen kritisch entgegentraten, so ist es doch deutlich erkennbar, wie diese wissen- schaftlichen Weltanschauungen lediglich eine Rationalisierung und Säkularisierung der biblischen Religion bedeuten. Selbst die unge- schichtliche Aufklärung war sich dieses Verhältnisses zur Bibel bewußt, wenn Lessing die Vernunftreligion als Ziel der Er- Ziehung des Menschengeschlechts durch die Offenbarungsreligionen betrachtet. Und andererseits glaubt Mendelssohn nicht bloß die Hinführung zur Vernunftreligion, sondern die Überein- Stimmung mit der Vernunftreligion als Gehalt des Judentums er- weisen zu können. Diese Schätzung der Bibel durch die Auf- klärung aber beruhte auf der Trennung des Vernunftsgehalts der Bibel von ihrem historisch-individuellen Charakter, der besten Falles in seiner pädagogischen Bedeutung anerkannt wurde.

Da nun liegt die epochemachende Leistung Herders in der Erkenntnis der Bibel als einer unteilbaren geschichtlich- geistigen Einheit, in der Religion und Geschichte des jüdischen Volkes eine einheitliche Ganzheit bilden. Und diese Erkenntnis gewinnt Herder nicht zufällig, sondern auf dem tiefen Grunde einer neuen Anschauung vom Wesen des Menschen. Kein Rousseauscher Waldmensch, kein Hobbessches Raubtier, aber auch kein reines Vernunftwesen ist der Mensch.Sondern der Mensch

1 Nach einem Vortrag, gehalten hei der Gedenkfeier des Jüdisch- theologischen Seminars für seinen Stifter, Kommerzienrat Jonas Fraenckel. Monatsschrift, 76. Jahrgang

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