Besprechungen

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einen kontrastierenden Affekt als Ursache der veränderten Haltung schließen. (Dieses exaltierte Umschlagen eines Affektes in einen entgegen- gesetzten empfinden wir ja übrigens auch bei Gustav Mahler als besonders jüdisch.) So sind impulsive Übergänge von tanzartigen Rhythmen zu kontemplativem Parlando häufig, das sich dann wieder nach kurzer Zeit strafft. Dabei verflacht die Melodie bisweilen streckenweise, um sich dann wieder mit^einem Schlage in einen vertieften Zustand hineinzuwerfen. Oft kommt auch der umgekehrte Fall vor: daß die Melodie aus der ur- sprünglichen Versunkenheit abspringt und sieh in die Diesseits weit hinein- befreit. Dabei sind die Chassidim ganz gewiß durch kein musikalisches Dogma und verhältnismäßig wenig durch liturgische Tradition gehemmt: was der musikästhetisch gebildete Europäer mit Souveränität ablehnen würde, verwenden sie mit naiver Selbstverständlichkeit. Sogar Banalitäten, die manche Beurteiler die nicht tief genug in die Genese eindringen konnten zu falschen Schlüssen verleiten, ergeben im weiteren Melodie- verlauf einen ungewöhnlichen Sinn. Hier macht sich die geniale Wandlungs- technik des religiösen Juden hervorragend bemerkbar. Der Ausgangspunkt ist von dieser Welt; von ihr aus aber ist jede Höhe und Tiefe erreichbar. So ergeht es einem fast immer bei diesen Gesängen, daß man zu Beginn nicht weiß, wie es weitergeht, obwohl gerade die Anfänge von höchst ver- trauter Physiognomie sind. Von jedem dieser Ansätze aus kann eben das Verschiedenartigste erreicht werden. Sie sind von unendlicher Vielseitig- keit und Ausschöpfbarkeit. Oft werden als Einleitung kleinste, einfachste Motive wie unter einem Zwange eine zeitlang wiederholt. Damit meint man sich vermutlich in den Anfangszustand der Ekstase zu versetzen. Zugleich ist das ein ,,Training zum nächsthöheren Zustand. Schließlich wird auch das Wiederholungsmotiv thematisch und rollt den melodischen Verlauf weiter aus sich heraus. Oft wird eine Spanne durch ein größeres Intervall übersprungen und erst nachträglich in vielgestaltigen Windungen schrittweise ,,ausgemessen, bis der neue Baum gleichsam ,,bewohnt ist. Es kommt auch vor, daß ein zentraler Ton (das mystische ,,Ziel gewissermaßen) auf verschiedenen Wegen immer wieder gesucht wird, so als ob der ,,richtige Weg zu ihm erst ״ausprobiert werden müßte. Mit einer besonderes abschätzenden Geste pflegt man eine gewisse Art von Sequenzen verächtlich zu machen, die man als ,,Terrassenmelodien bezeichnen könnte. Hier wird freilich auf recht primitive Weise ein Motiv von verschiedenster Tonhöhe aus wiederholt, bis es gleichsam ״automatisiert ist. Eine immerhin mögliche Deutung für diese melodische Systematik wäre es, in ihr ein Abbild des Sphärenaufbaus zu vermuten. (Man muß immer im Auge behalten, daß die Erfinder dieser Gesänge zu einer mystischen Grundhaltung tendieren, will man die musikalischen Tatsachen nachempfinden.)

Es ist nicht einfach, die Eigenart all dieser Melodietypen ohne Noten- beispiele darzulegen. Als Anfangsmotiv tritt häufig die Quart (bzw. der sogen. Quartsextakkord) auf. Dabei spielt hier die Intervall- oder Akkord- bedeutung keineswegs die gleiche Bolle wie in anderen Volksliedern. Die