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Peter Gradienwitz

Es ist noch nicht gelungen, Proben von ״Ghetto-Musik zu finden. Das ist leicht erklärlich. Es handelte sich durchweg um eine Volksgemeinschafts-Musik, die sich nur mündlich ver- erbte. Und von einem ״Volkslied im ü b 1 i c h e n Sinne können wir nicht sprechen. Wie Idelsohn einmal richtig feststellte 2 , haben die Juden seit der Aufgabe ihrer Selbständigkeit im eigenen Lande keine Volkslieder im Sinne anderer Völker gehabt. Volkslieder sind hei anderen Völkern Kriegs-, Trink- und Liebeslieder, Ausdrücke der Vitalität, die nur einer leben- digen geschlossenen Nation eigen sind. Heute kommt es uns ganz natürlich vor, daß die Juden seit ihrer Zerstreuung keine solchen Lieder mehr hatten (selbst die heutigen ostjüdischen Weisen sind m. E. nicht als ״Volkslieder zu definieren); aber nach der Zerstörung des jüdisch-religiös-nationalen Zentrums war es nötig gewesen, als Zeichen der Trauer alle noch haften gebliebenen Volksgesänge zu unterdrücken. Dem schönsten lyrisch-weltlichen Lied aber, dem Hohen Lied, gab man einen allegorisch-religiösen Sinn als Ausdruck der Liebe zwischen dem Herrn und Israel.

Im Mittelalter nahm man es mit jener Bestimmung, die lange ein eigenjüdisches Musikausüben verhindert hatte, nicht überall gleich ernst 3 ; und nachdem schon früh bestimmten Klassen das Musizieren (vor allem natürlich Singen) erlaubt wurde, wenn man annahm, daß es ihrer Arbeit nützlich war wie z. B. Pflü- gern und Seglern 4, dehnte man die Erlaubnis bald auf be- stimmte Feste aus, namentlich für Purim und Hochzeiten. Mei- stens allerdings ließ man dann nicht jüdische Musiker spielen, sondern Christen (oder in Spanien auch Mohammedaner). In Palästina, Ägypten und Damaskus allerdings war die Beschäfti- gung auch fremder Musiker verboten 5 . In Europa sah man es nicht gerne, die Andersgläubigen am Schabbath zum Aufspielen zu bitten; aber wenn wie es oft geschah- christliche Mu- siker uneingeladen ins Ghetto kamen, hatten die Rabbis nichts dagegen einzuwenden 6 . Als später dann auch die Juden wieder

2 A. Z. Idelsohn ״Jewish Music in its historical development, New-

York 1929, S. 358. 3 Vgl. Löw ״Lebensalter, S. 311.

4 Sota, 48a. 5 Radbaz, Responsa IV r 132, .

6 Vgl. Neubauer ״Mediaeval Jewish Chronicles, I. f S. 157.