Licht und Schatten.

Auf dem geschichtlichen Gebiete deS JndcnthumS begegnen sich seit undenklicher Zeit Licht und Schatten in eigcnthümlicher Weise. Jedes Volk hat seine geschichtlichen Phasen, in denen Licht und Schatten entweder gleichmäßig oder imt Vorwaltung des einen oder des andern verthcilt sind; aber ״Schatten" ist hier nur ein relativer Begriff, die Bezeichnung für die Unvollkom- menbeit des Lichtes: der Staatöorganiümuö ist nämlich selten so vollendet, in allen seinen Thciien nach innen und außen so ge- gliedert, daß nicht an seiner Scheibe manche dunkle Flecken mehr oder minder sichtbar hcrvvrtreten, die also nur Lücken, vom Lichte nicht ansgefülltc Stellen sind und sich, je mehr sich das Licht ausbreitet, desto mehr verwischen. Die Geschichte deS Juden hat Licht und Schatten in ihrer ganzen Intensität zugleich: im In- nern Licht, ein leuchtendes Strahlcnmecr dcö Glaubens und des Erkenncns, von Außen tiefer Schatten, trübes, undurchdringliches Gew ölte, dessen Schleier kaum auf Augenblicke ein seltener Blitz- strahl dnrchrcißt. Entschädigt ihn auch das innere Licht für den äußern feindlichen Schatten, so drängt sich ihm doch häufig die Frage auf: ist es seine Bestimmung, daß in seiner Geschichte stets Licht und Schatten neben einander gehen, sein Weg, weil er feinem inner« Lichte folgt, durch Entbehrungen und Kämpfe führt? Ließen die Jahrhunderte der Finsterniß und der Barbarei diese Zweifel nicht zur Beschwichtigung kommen, so eröffnete die zu einem geläuterter« Begriffe des Staates gelangte Neuzeit die Aussicht auf eine friedliche Lösung: der Jude bildet ein in den Organismus des Staates cingesügteS Glied, er par- ticipirt an seinen Pflichten, es können ihm daher die diesem entsprechenden Rechte nicht versagt werden. Aber welch' ein Zwischenraum liegt zwischen Theorie und Ausführung, wie häufig

Frankel, ÄionatSschrift. Vll. 1. 1