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Die religiösen Bewegungen der Gegenwart
und unserer Großväter eine gewaltige Kluft bestehe (also gegen eine offenkundige Thatsache nicht die Augen verschließe), der habe die Burg des Conservatismus hinter sich, oder wie die Phrase lautete. Also mau identificirt frischweg Conservatismus oder Or- thodoxie mit Stumpf- und Blödsinn, und hat dann leichtes Spiel — wir verachten solche Fechterkuuststückchen, mag auch ein großer Chorus ihnen Bravo zurufen und uns angelündigt werden, daß nächstens sogar von jenseits des Meeres ein lautes Echo dem Plaudite des Akteurs antworten werde.
Aber herrschsüchtig (und verketzerungslustig 1) ist doch auch die jüdische Orthodoxie. Da dürsten wir wohl zunächst ein ״ viel- leicht umgekehrt" geltend machen. Eine Reihe von Jahren hat ohne Zweifel die Neforinpartei in den deutschen Gemeinden, so- bald sie die Majorität und die Herrschaft erlangt hatte, die Geg- ner zu unterdrücken und ihnen die eigene Richtung aufzuzwingen gesucht. Haben hier und da Orthodoxe die ihnen günstige Stim- mnng der Staatsregierung benutzt, unr zur Herrschaft zu gelan- gen, so hat man anderswo Reformen durch Polizeigewalt einge- ftihrt. Beides liegt glücklicherweise hinter uns. Versuche von rechts oder links, eine Wiederholung aufzuführen, würden dem allgemeinen Unwillen verfallen. Was kann aber überhaupt dar- unter gedacht werden, wenn man sagt, ein orthodoxer Rabbiner oder Vorsteher sei herrschsüchtig. Was ein solcher möchte, wollte, wünschte, also sein etwaiges Herrschgelüste, entzieht sich menschlicher Kritik. Um Herrschsucht faktisch zu zeigen, muß man irgendwelche Macht besitzen, oder auch nur borgen können. Der Rabbiner ist nach wie vor מ׳עועבד , dienender Beamter, nicht Herr,
') Dies einge klammerte Register pflegt mitzuklingcn, wenn die andern gezogen werden. Wir haben darüber schon oben das Nöthige gesagt, haben ehrlich zugestanden, das; bei theologischen Streitigkeiteir nicht minier bloß mit Gelehrsamkeit und Scharfsinn ( חריפות ובקיאות ) gekämpft werde, son- dcrn oft allerlei ernfließe, was den anderweitig üblichen Verketzerungen recht ähnlich sieht. Aber ;vir haben auch gesagt, daß dergleichen am jüdischen Volke rasch und spurlos vorübergehe, daß es aus diesem Grunde, und weil alle Macht, dem Urtheil Vollzug zu schassen, fehlt, recht harmlos sei, und haben das Geständniß verlangt, daß die Gegner durch theologischen Eifer ihrerseits den der Orthodoxen wett machen. Es fallen eben Späne, weitere Gefahr bringt die Sache nicht.