Jean Jacques Rousseau und das Judentum.
Von Alphonse Levy.
Am 28 . Juni d. J. waren zwei Jahrhunderte seit dem Tage verflossen, an dem Jean Jacques Rousseau in Genf geboren wurde. Die Bedeutung dieses Gedenktages ist in Wort und Schrift vielseitig gewürdigt worden. Mit Recht; denn der Genfer Weltweise hat durch sein Streben nach echter Geistes- und Herzensbildung, nach Licht und Wahrheit, nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, be- sonders auch durch die Lehre von der Rückkehr zur ewig schönen und wahren Natur die Aufklärungsphilosophie zu einem unzerstörbaren Segen für die Menschheit gemacht. Mit manchen menschlichen Mängeln behaftet, ohne die sittliche Kraft, Fehler, die er als solche selbst erkannt, zu verbessern, ist Rousseau trotz tiefen Gefühls für die Mensch- heit verkannt und verbittert aus dem Diesseits geschieden; aber seine Gedanken leben und wirken in der Menschheit unauslöschlich fort. Zum Teil haben sie sich in einer Weise verwirklicht, die er weder geahnt noch gewünscht hat; sie mußten in einer Zeit sittlicher Verwilderung, schändlichster Unterdrückung und tiefsten Aberglaubens ungezählte Mas• sen von Unrechtleidenden zur Selbsthilfe, zur Empörung treiben. In ihrem Kern wahr und edel, sind aber diese Ideen, durch 1 ' die Zeit von Schlacken gereinigt, von Kultur- trägem der verschiedensten Völker diesen zum richtigen Verständnis gebracht worden und haben sich so befruch- tend erwiesen, daß der zweihundertste Geburtstag Rous- seaus in seiner Geburtsstadt Genf, die ihn einst verkannt und verbannt hat, wie der eines Nationalheiligen gefeiert wurde.
Monatsschrift, 56. Jahrgang.
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