Julius Bab
kein falsches oder entbehrliches. Es gibt einen Stand geistiger Notwehr, und nachdem sich völkische Agitatoren nicht gescheut haben, Goethe als Kronzeugen für ihre Art des Antisemitismus in Anspruch zu nehmen, bleibt uns nichts übrig, als ihnen durch eine gründlichere Betrachtung des Problems zu entgegnen, um den Schaden, den ihre Deduktion in den Köpfen anrichtete, auszugleichen. — Dabei aber wollen wir unserer Ehrfurcht vor dem großen Gegenstand, den wir in die Enge dieser Betrachtung ziehen müssen, doch wenigstens in soweit Genüge tun, als wir seinen Namen, seine Werke und seine Worte nicht zum Material einer Diskussion mit völkischen Agitatoren entwürdigen. Unmöglich, im Namen Goethes eine Unterhaltung zu führen mit Mannern, die (in einem Nebensatz!) die große französische Revolution als eine „Judenmache" konstatieren, oder die die Brentanos als eine „syro-semitische Bastardfamilie" abtun, oder von Goethe selbst feststellen, daß er in seiner Erscheinung „ganz das Urbild eines Nachkommen Abrahams" und in seinem Wesen „weit mehr Semite als Deutscher" war. (Denn das ist, wie Shakespeare zu sagen pflegt, der Humor davon: Die ganz Völkisch-Völkischen bemühen sich nicht mehr um Goethe als Eideshelfer beim Judenmord, sondern morden ihn samt seiner unbequemen Geistigkeit lieber als Juden mit ab.) Eine Diskussion mit diesen unglücklichen Monomanen und Agitatoren zu führen, soll also nicht unsere Absicht sein. Auch soll es uns nicht darauf ankommen, die Fortdauer der Debatte dadurch zu garantieren, daß man (nichts leichter als das!) durch ein willkürlich geschicktes Arrangement keineswegs gefälschter Zitate nun Goethe als einen begeisterten Judenfreund darstellt Vielmehr wollen wir, einmal gezwungen, einen im Sinne der Goetheschen Totalitat unwichtigen kleinen Komplex aus dem Gesamtwerk seiner Existenz herauszuschneiden, den Fall wenigstens in der Breite der Goetheschen Gesamterscheinung anzuschauen versuchen. Weniger die Vollständigkeit der zu nutzenden Belege erscheint wichtig, als ihre vollständige Einordnung in das Wesen der Goetheschen Person, deren Art uns unantastbar einheitlich bleiben muß, auch dort, wo wir aus der Masse des Inhalts nur einen so winzigen Teil ins Feld der Betrachtung rücken können.
IL
Zunächst muß man auch in dieser Betrachtung sich des ebenso weit verbreiteten als törichten Aberglaubens entschlagen, als wäre irgendein Mensch der „Urheber seiner selbst und nur sich selbst verwandt". Jeder Mensch wächst mit tausend Empfindungen und Meinungen aus der Tradition seiner
44