Gedanken zu Prousts
Gesprächs oder einer Handlung ist. Auf diese Zeitform der Erinnerung weist das Fehlen von Daten hin, sowie das Fehlen von Namen und Personalien verriet, daß es sich hier nicht um den „wirklichen" Vorgang der Erinnerung handelt.
Noch immer aber ist das Wesen der Erinnerung nicht genug eingekreist; durch neue Analysen entsteht die Spaltung in die tote Erinnerung, in der er, auf Aktivität und Leistung eingestellt, eingeprägte Tatsachen weiß und in die lebendige Erinnerung, in der er, ganz Passivität und Träumerei, noch einmal fühlt, was war, bis endlich ganz geklärt la memoire glacee, die nur bestätigende und le souvenir, die wieder aufleuchtende Erinnerung geschieden sind; die erste enthält die Gestalt Rus- kins, aber in der anderen liegen die Häuser der kleinen Provinzstadt mit ihren Originalen und der Garten der Villa Swann mit der Fliederhecke, aus der der erste Strahl der Liebe sein Herz traf.
Zu allen diesen Arten Erinnerung gehört ein Gegenstand, und wieder liegt der Unterschied zu anderen Büchern in derselben Richtung; deren Erinnerungsobjekt liegt nämlich meistens im Reich der Tatsächlichkeit, es werden Ereignisse des eignen Lebens, Historisches oder Naturgeschehen der Wirklichkeit gebracht, aber hier findet man nur Wesensspiegelungen einer gültigen Sphäre. Zufällig haben die „Jugenderinnerungen eines alten Mannes" und der „Weg zu Swann" an einer Stelle dasselbe Thema, die Schlaflosigkeit eines Kindes. Da wird also einmal der Tag, <iie Stadt, die Art, in der es sich zugetragen hat, berichtet, kurz die Tatsache der Schlaflosigkeit in Zeit und Raum, aber bei Proust erhebt sich das Gesetzmäßige der Schlaflosigkeit und ein Zug nach dem anderen entfaltet sich: die Schlaflosigkeit
„Weg zu Swann"
der Winterzimmer im Mantel glimmenden Dunstes, die der Sommerzimmer, in die der Duft aus dem Garten strömt, die nach dem Liebestraum, in dem wir das Geschöpf unsrer Sehnsucht suchen, die des Kranken mit ihren Ängsten und Hoffnungen, kurz ihr Wesen, alle ihre idealen Möglichkeiten. Mit ihr formen sich dann die Bilder der Natur, der Kunst und der Liebe. Die Natur ist bis in die feinsten Nüancen konkret geschildert, aber nicht in der Art der Naturwissenschaft wie sie in den Büchern mancher rationalistischer Schriftsteller steht, auch nicht schwärmerisch sentimental wie im Werther und nicht nur impressionistisch wie bei Flaubert, sondern hier sind auch die innersten Motive für jede Lebensäußerung ans Licht gebracht, mit sicherer Intuition ist jedes Wesen unverwechselbar fest umzirkt und aus der Geschichte der Menschheit gezogen, so wie es als Gegenbild unsrer Erlebnisse im Bewußtsein steht. Nur da, wo die Natur geprägt durch eine Kunst erscheint, wo Statue und Dom am Fels im Wogensprühen stehn, tritt sie in die Jahrhunderte hinein.
Da nun zum intuitiven Erfassen alles Seins, der Dinge und der Erlebnisse, am besten die Akte der Phantasie führen, so ist bei Proust die Kunst als Kind der Phantasie der sicherste Weg zur Wahrheit, sie ist die Bedingung, unter der sein Erkennen gültig ist, das a priori, das die Wahrhaftigkeit des Lebens so tief sichert, daß wir darin problemlos in einem Akt des Glaubens ruhen können. In ihrem Inneren aber birgt sie noch eine letzte Möglichkeit der Erinnerung, die übersinnliche, die dunkel von einer unbekannten Heimat spricht. So ist die Kunst das Pfand der Unsterblichkeit. Diese führende Urkraft, die Phantasie, entzündet sich bei Proust
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