Alfred Seidel: „Bewußtsein als Verhängnis"
zu ganz für diesen Daseinsaugenblick —, sondern es handelt sich um ein schwach und leise brennendes Licht, das sich selbst ohne Deckung in schlichter, lauterer Bereitschaft dem Sturm seiner Weltstunde zum Verlöschen darbot. Denn gewiß gehörte dieser Mensch nicht zu den ganz starken Geistern, die solchen Püffen standzuhalten vermögen; aber ganz deutlich gehörte er zu den Wenigen, die Gott „also" — d. h. aus dem überpersönlichen Ganzen des Lebens bis ins Mark des ganz persönlichen Lebens angreift.
Der Weg, den das Denken Alfred Seidels ging, war schmal, steinig und schmucklos — die Aufgabe, die er auf ihm fand, ohne Pathos, ohne Lohn und Beglückung. Es war der erbitterte Kampf gegen einen Feind, den er mit seinen eigenen Waffen bekämpfen mußte, weil keine anderen ihm selbst zu Gebote standen: der Kampf gegen das zum Verhängnis gewordene übermäßige Bewußtsein unserer Zeit. Gegen das Bewußtsein aber in einem ganz bestimmten, von ihm selbst klar umschriebenen Sinne. Eine Kritik Seidels darf darum nicht etwa — wie es geschehen ist — davon ausgehen, daß er den Charakter des Bewußtseins verkannt und nur dessen eine Seite gesehen habe. Nicht Bewußtsein schlechthin, nicht alles Bewußtsein und Bewußtmachen gilt ihm als Verhängnis. Ausdrücklich sagt er: „Nicht jedes Bewußtmachen ist schädlich, sondern nur dasjenige, was Selbstzweck wird und nicht von einem überpersönlichen Sinnzusammenhang getragen wird."
Damit hat er aber zugleich den Charakter gerade des Bewußtseins unserer Zeit umrissen. Daß das Bewußtsein im heutigen Sinne durchweg von einem überpersönlichen Sinnzusammenhang abstrahiert, daß es um seiner selbst willen oder
um rein persönlicher Zwecke willen geschieht, daß es darum ein lediglich zerlegendes, rein analytisches Bewußtmachen ist, das allein ist ihm verwerflich und das Zeichen einer sterbenden Welt. Von allen Seiten rafft er aus der modernen Geistesgeschichte die Fäden solchen unfruchtbaren, in sich selbst kreisenden Bewußtseins zusammen. Untrüglich wie sein Wahrheitssinn ist sein historisches Bewußtsein. Überall in jeder Gestalt und Lebenshaltung der modernen Welt wittert und erkennt er den verhaßten Feind; Schritt für Schritt enthüllt er seinen Gang durch die Zeit, sein Anwachsen und Erstarken. Zur persönlichsten Tragik aber wird diese Enthüllung und der leidenschaftliche Kampf Seidels erst dadurch, daß er den Feind, den er bekämpft, noch zu übertrumpfen unternimmt, daß er selbst ihn überall, in jedes scheinbar noch in sich ruhende Ganze einführt — daß er, um die Analyse ad absurdum zu führen und zu zerstören, kein anderes Mittel weiß, als sie selbst bis zum äußersten Ende zu treiben, daß er so sich selbst als den Repräsentanten dessen weiß und zeigt, was er mit aller Macht bekämpft.
Aber die Analyse läßt sich nicht durch sich selbst überwinden. Etwas Anderes nur kann sie aufheben, etwas ganz Anderes. Und um diese Aufhebung mit solcher Macht zu wollen, dazu muß schon dieses ganz Andere am Werk sein. Dieser ganze leidenschaftliche Wahrheitskampf, diese fanatische Auflösung des Auflösenden, diese „Nihilisierung des Nihilismus" konnte letzthin nur von einem Wissen aus geschehen, das durch diese Auflösung alles rein gedanklich Wißbaren gar nicht berührt wird. Im Hintergrund von Seidels verzweifeltem Kampf steht wie ein verhüllter dämmernder Opferberg hinter
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