Lassalle's letzte Tage
So reist er am 3. August nach Genf zu Helene von Dönniges' Eltern, und hier erfüllt sich sein Schicksal. Helene sucht ihn in der Pension Bovet auf, eröffnet ihm in leidenschaftlicher Erregung die Weigerung ihrer Familie und taucht dann völlig für ihn unter. In qualvollen Wochen vergeblicher Versuche, die Verbindung mit ihr herzustellen, die er von ihrem Vater mißhandelt und eingesperrt wähnt, zieht er alle seine Freunde und alle einflußreichen Bekannten, bis zum Erzbischof Ketteier von Mainz, Richard Wagner, König Ludwig von Bayern in die Angelegenheit seines Herzens. Die moderne Psychologie arbeitet nicht mehr mit „Wendepunkten" in den Charakteren; sie hebt die Begriffe „Verirrung" und „Bruch", „Bekehrung" und „Rückkehr" auf, um auch scheinbar widerspruchsvolle Lebenstatsachen aus dem Gesamtkomplex der Anlagen und Umstände zu erklären. So ist Hefeies Dante und Augustinus, so Stefan Zweigs Hölderlin und Kleist aufgefaßt. Die Zusammenstellung der Dokumente über Lassalle's letzten Lebensabschnitt beweist, daß Dr. Britschgi richtig sieht, wenn sie in ihrem Anhang den gleichen Weg einschlägt. Die Überschattung der nahenden Katastrophe verdunkelt bereits Lassalle's Stirn, als er noch nicht an Helene von Dönniges denkt. Als sie dann in sein Leben eintritt und in Genf über Nacht ihre verhängnisvolle Bedeutung für ihn gewinnt, da ist dies keine Verirrung des sonst so klaren, philosophischen Kopfes, der ganz an seine Lebensaufgabe hingegeben ist; es ist auch diesmal trotz des gegenteiligen Scheines für ihn mehr eine Leidenschaft des Kopfes als des Herzens. Der Kampf um Helene von Dönniges ist der ewige Kampf seines Lebens: gegen Unterdrückung, gegen Halbheit,
gegen menschliche Schwäche und menschliche Bosheit; er wird darüber hinaus für den krank und müde Gewordenen zur entscheidenden Frage an das Schicksal und zum letzten, trotzigen Spiel um seine Existenz. „Ich darf nicht an dieser Geschichte scheitern___Ich bin im Leben
oft schwer und häufig erst nach Überwindung vieler Hindernisse ans Ziel gelangt; aber ans Ziel gelangt bin ich noch
immer"___„Seit heute bin ich zu Eisen
geworden, fühllos gegen mich selbst; nur noch eiskalter, Körper gewordener Wille. Mit der Ruhe eines Schachspielers werde ich diese Partie zu Ende spielen."
Daß auch seine Freunde den Kampf um Helene von Dönniges so auffassen, zeigen im besonderen Maße die hier zum ersten Male gebrachten Briefe Holthoffs, der die Bedeutung der Angelegenheit zunächst nicht klar sieht, sich dann aber mit einem Emst und einer Unbedingtheit für sie einsetzt, die alle bisherigen Zweifel an seiner freundschaftlichen Loyalität beseitigt. Der mehrfach ausgesprochene Wunsch Lassalle's, unter allen Umständen persönlich „rein und ohne Makel" aus dem Lügengewebe, in das er verstrickt worden war, hervorzugehen, ruft die Situation nicht hervor, sondern spitzt sie nur zu. In dem Augenblick nun, wo Lassalle das frivole und leichtfertige Spiel der Helene von Dönniges erkennt, hat das Schicksal gegen ihn entschieden. „Lüge ist" ihm nun „alles was existiert". Die Menschennatur ist ihm „entehrt", und es bleibt ihm nur noch der Ausweg, sie aufzugeben. In dem Fluch, mit dem er seine Verderberin trifft („Möge mein Los auf Dich zurückfallen und mein Fluch Dich bis zum Grabe verfolgen. Es ist der Fluch des treuesten, von Dir tückisch gebrochenen Herzens, mit dem Du das schändlichste Spiel getrieben.
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