Leo Baeck

würdig. Neben ihren drei Söhnen erzog sie zwei Knaben und zwei Mädchen. Daß ihr Haus den Armen offen stand, ist fast selbstverständlich. Wenn sie uns Brüdern das Nachmittagsbrot schnitt, führten wir wohl oft arme Christenkna­ben von der Straße ihr zu, und sie be­kamen wie wir.

Die wenigen Armen wurden von den Wohlhabenden der Gemeinde erhalten; wirklich reich war niemand (niemand hatte ioooo Taler). Alle waren teils durch Blut, teils durch Heirat, teils durch achtungsvolle Freundschaft miteinander verbunden, und es herrschte ein schöner, heiterer, geselliger Geist. Durch Ver­mächtnisse und Geschenke war die Ge­meinde als solche recht wohlhabend. Dankbare Erinnerung lohnte die verstor­benen Geber.

Dem Fürsten, dem späteren Herzog Franz, kam das Verdienst zu, die Franz­schule in Dessau gegründet zu haben, welche die hohe Schule für alle Juden Anhalt-Dessaus ward, aber auch von weit her, besonders aus Berlin (auch aus Konstanz) Zöglinge erhielt. Sie stand in Verbindung mit der Talmudanstalt und war so zugleich Lehrerseminar.

Wir drei Brüder hatten das stillschwei­gende Gefühl, die Söhne des ersten Mannes der Gemeinde zu sein und später­hin bei unseren Altersgenossen dasselbe Ansehen wie unser Vater zu genießen. Mein älterer Bruder war der erste in der Schule und ich, geboren 1823, wußte, daß nach seinem Austritt aus derselben, ich seinen Sitz einnehmen würde, wie nach mir mein jüngerer Bruder. Diese unsere Stellung wurde auch von allen Knaben stillschweigend anerkannt, auch von den christlichen Kindern der Stadt.

Das Alphabet.. Lesen und Schreiben,

hebräisch und deutsch und die ersten Übungen im Übersetzen des Hebräischen hatte ich noch von einem Lehrer ge­lernt, der aus dem Herzogtum Posen stammte. Da kam plötzlich, i83i, von dem Vorstande der Dessauer Gemeinde der Befehl, alle ausländischen Lehrer zu entlassen und dafür junge Männer zu nehmen, die in Dessau auf der Franz­schule ausgebildet waren. Nach Gröbzig wurde uns ein Jüngling gesandt, der ein geborener Gröbziger war, Baruch Herz­feld. Ich glaube, daß er von allen Zög­lingen der Franzschule der begabteste und auch der bescheidenste war. Ob­wohl es ihm an eigentlicher didakti­scher und pädagogischer Methode fehlen mochte, konnten wir bei ihm, bei der ge­ringen Zahl der Schüler mehr lernen, als auf einer Volksschule zu erwarten war.

Das Verhältnis zwischen Juden und Christen in meiner Vaterstadt war zwar insoweit man im Verkehr einander bedurfte ein durchaus freundliches; aber alle offiziellen Schranken, die ich oben bezeichnet habe, bestanden immer noch; nur, wenn ein Handwerk in der Stadt nicht vertreten war, konnte ein Jude als Böhnhase (Pfuscher) es betrei­ben. So gab es einen jüdischen Buch­binder, einen Uhrmacher, einen Eisen­warenhändler, neben einem Buchbinder, der besonders von einer Leihbibliothek in dem benachbarten Löbinn beschäftigt ward.

In keiner Stadt Anhalt-Dessaus konn­ten die jüdischen Kinder die christlichen Schulen besuchen, auch als Soldaten wur­den sie nicht genommen, bis das Re­volutionsjahr 1848 in allen diesen Punk­ten Änderung brachte.

In GeigersZeitschrift für jüdische

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