Leo Baeck: Aus den Jugenderinnerungen Steinthals

mir einen Dreier. Im Hebräischen lernte ich außer dem Text des Pentateuch, eini­ger Psalmen, einiger Kapitel der Sprüche, der fünf Megilloth und der Propheten auch Raschi und gelegentlich Biur. 1 )

Hebräische Grammatik lernte ich nach der Methode, in der im Mittelalter in den Klöstern Latein gelernt wurde: wir übersetzten die hebräisch verfaßte Gram­matik der hebräischen Sprache von Ben- Sew. Und da wir uns bei den Gesetzen des Dagesch, des Vokalwandels und der Akzente sehr lange aufhielten, so lernte ich von der Konjugation, den Verben nur wenig, von der Wortbildung gar nichts.

Nicht in der Schule, sondern bei un­serem Chason 2 ) Reb Hirsch lernte ich Mischna und ein klein wenig Gemara. Hier habe ich ein Beispiel davon zu erzählen, wie stillschweigend und selbst­verständlich unter uns die Sachen her­gingen. Eines Nachmittags gab mir mein älterer Bruder ein Buch in die Hand und sagte:gehe damit zum Chason". Das tat ich, und dieser sagte zu mir:Setze dich". Und so setzte ich mich mit sei­

nem Sohne, der gleichaltrig mit mir war, an den Tisch, und wir lernten. Die­ser Unterricht war natürlich umsonst. Doch ich hatte nicht daran gedacht zu fragen oder mich jemals zu bedanken.

Obwohl ich, ebenso wie mein jüngerer Bruder, zuweilen, wenn niemand sonst im Laden meiner Eltern war, für einen Dreier Stecknadeln, Zwirn oder Seide verkaufte, hörte ich häufig Bekannte meiner Eltern von mir sagen: Der wird kein Kaufmann, der wird ein Rabbiner. Ge­fragt, sagte ich, daß ich kein Rabbiner werde, aber viel lernen möchte. Mein älterer Bruder aber, der nach dem Tode meines Vaters im Geschäft bleiben mußte, wozu er weder Lust fühlte, noch Befähigung hatte, war entschlossen, mich studieren zu lassen. Er fühlte sich un­glücklich; er war ein hervorragendes ma­thematisches Talent und mußte im Han­del verkommen. Damit es mir nicht ebenso ergehe, wollte er aus mir etwas machen. Er veranlaßte meine Mutter an Ostern i836, als ich noch nicht drei­zehn Jahre alt war, mich nach Bern­burg zu bringen.

x ) Den hebr. Kommentar Moses Mendelssohns. 2 ) Vorbeter.

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