Ilse Abramczyk
ken des hellenischen Polisbürgers durchbricht, wenn wir hören, wie der Weise im Gefängnis den Freunden die seelischen Tugenden seines Kerkermeisters rühmt, der doch ein verachteter Sklave war, und erzählt, daß er mit diesem Manne philosophische Gespräche geführt habe.
Dem entspricht bei Jeremia, daß die wichtigste der Botschaften, zu deren Überbringer er sich aus ersehen fühlte, die Botschaft vom Heile einer freiwilligen Eingliederung ins Weltreich des Nebukadnezar, nicht nur an des Propheten eigenes, mit so unendlicher Inbrunst und so unendlichem Schmerze geliebtes Volk erging, sondern auch an die umwohnenden Völker, an all die kleinen Staats- und Stammesgemeinschaften zwischen Nilmündung und Eu- phrat, die das Schicksal hatten, in der ständigen gegenseitigen Fehde der benachbarten Großmächte allmählich zerrieben zu werden. Ihnen allen — so hören wir im 27. Kapitel des Buches Jeremia — stellte der Prophet für den Fall eines starrsinnigen Festhaltens an ihrer nationalen Selbständigkeit den sicheren Untergang, für den Fall eines einsichtsvollen Verzichts aber die Segnungen einer dauerhaften Pax Babylonica in Aussicht. Das gleiche tiefe Wissen um übernationale menschliche Solidarität und Schicksalsverbundenheit offenbart sich auch in der bekannten Weisung, die Jeremia schon vor dem Falle Jerusalems an die Exulanten in Babylon ergehen läßt: sie sollten für das Wohl ihrer neuen Heimat beten und es als ihr eigenes betrachten. Und noch unverkennbarer tritt der dem Sendungsbewußtsein des Jeremia eignende universal-menschheitliche Zug in der Episode von Ebed-Melech, dem Mohren, hervor (Jeremia 38, 7ff.; 39,15ff.). Ist doch gerade dieser dunkelhäutige Fremdling der einzige unter König Zedekias Höflingen, bei dem der Prophet Verständnis und Schutz findet, und der Einzige, der dann inmitten der Schrecken der Katastrophe von Jeremia eine tröstliche Verheißung empfängt.
Werden nun aber nicht all diese Analogien wesenlos angesichts der, wie es scheint, unüberbrückbaren Kluft, die sich zwischen dem ekstatisch-visionären Sendungserlebnis des Jeremia und jenem vielberedeten Intellektualismus auftut, den die herkömmliche Auffassung dem Sokrates zuschreibt? Wem die Sokratesdeutung eines Julius S t e n z e 1 den Blick für das Überrationale in der Ratio des attischen Weisen geöffnet hat, dem wird sich jene Kluft als überbrückbar darstellen. Wie Stenzel gezeigt hat, zielte alle sokratische Dialektik letztlich darauf ab, in der Seele der Mitunterredner das Bild einer vollkommenen Gemeinschaft und die Einsicht in die eigene Stellung zu deren Ganzem lebendig zu machen. Wohl ist es des Sokrates Weisheit, daß er nicht weiß, sondern sucht und getreu dem göttlichen Auftrag, den er aus dem seinem Freunde zuteilgewordenen Orakelspruch herausliest, auch seine Mitbürger und Mitmenschen zu gleichem selbständigen Suchen nach dem rechten
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