Ilse Abramczyk

Todes ein beredtes Zeugnis auch gegen die immer wieder vorge­brachte Behauptung ab, daß solche Liebe für den klassischen Grie­chen keinen Lebenswert bedeutet habe. Und an dem Wort, das die Heldin in erhabenem Trotz dem Tyrannen entgegenschleudert, der ihr das Gesetz seines Hasses aufzwingen will:Nicht mitzu- hassen, mitzulieben bin ich da" wird deutlich, wie schon des hellenischen Geistes vollste und prächtigste Blüte jene Frucht in sich barg, die dann seine spätere Entwicklung, derHellenismus", zur Reife bringen sollte: die Idee der Menschheit, den Gedanken eines universalen gegenseitigen Miteinanderverbunden- und Einanderverpflichtetseins. Diese Idee, die ihre strahlendste Re­naissance im Humanismus der großen deutschen Denker und Dich­ter des ausgehenden 18. Jahrhunderts erfuhr, und die ja auch bei der Emanzipation und Assimilation der deutschen Juden von aus­schlaggebender Bedeutung war, ist erstmalig von der Philosophie der Stoa und wahrscheinlich gleichzeitig auch von der des Peri- patos hervorgebracht worden.

Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß ein Schöpfungs­bericht, der die Ureinheit des Menschengeschlechtes und seiner gottverliehenen Würde mit solcher Eindringlichkeit und Wucht ver­kündet wie die Urgeschichte der Bibel, in allen Kulturkreisen der Welt, auch im hellenischen, nicht seinesgleichen hat 1 ). Und einzig­artig und unüberbietbar ist wohl auch die Innigkeit, die schlichte Unmittelbarkeit, die urwüchsige Gewalt, mit der das Erlebnis einer universal-menschlichen Solidarität immer wieder aus den gotterfüll- ten Herzen der Männer hervorbrach, die die Bibel schrieben: im Buche Jona und im Buche Rut, an den oben erwähnten Stellen des Jeremia-Buches, in der wunderbar rührenden Vision des Jesaia von einer Zukunft, da Ägypten und Assyrien den wahren Gott erkennen und gemeinsam mit Israel sich seines Segens erfreuen würden (Kap. 19). Aber es ist doch wohl so, daß wir heute, wenn wir uns über all dieses Rechenschaft ablegen, Schüler und Erben hel­lenischen Geistes sind, so wie einst Philon es war, als er aus den in der Thora enthaltenen Vorschriften eines hilfsbereiten Verhaltens gegen Feinde die Absicht des Moses herauslas, ein dereinstiges goldenes Zeitalter der Eintracht und Gleichgesinntheit des ganzen Menschengeschlechtes vorzubereiten. Allerdings hat uns Isaak Heinemann gezeigt, wie Philon den Kosmopolitismus seiner kynischen und stoischen Lehrmeisterüberbietet", und ebenso hat er bei den großen Aristotelikern und Piatonikern des mittelalter­lichen Judentums nachgewiesen, wie wichtig gerade für ihre Ethik ihrjüdisches Lebensgefühl" gewesen ist. Aber eines bleibt doch

!) Zur philosophischen Einzigartigkeit des biblischen Schöpfungsberichtes vgl. Richard Hönigswald, Erkenntnistheoretisches zur Schöpfungsgeschichte der Genesis, Tübingen 1932.

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