Adieu, Charlie!
Nicht um den Schauspieler Chaplin, den Bernard Shaw den größten der Weit nannte, wird der Film demnächst ärmer geworden sein; nur Charlies Bild, diesen geliebten Vagabunden mit der feierlich-armseligen Melone in der guten Stirn, mit den großen und ewig erstaunten Augen, mit den Harmonikahosen über den viel zu großen Latschen und mit dem kecken Biege- stöckchen, — diese einmalige, zeitlose und uns doch so nahe Gestalt werden wir bald nur noch als Erinnerung heutiger Schauspielkunst in uns tragen. Chaplin hat endgültig die Melone und die Harmonikahosen abgelegt, die Schuhe beiseitegestellt, das Schnurrbärtchen abgeschminkt, das Stöckchen an den Nagel gehängt — und ein neuer Chaplin kündigt sich an. Wird er jenem eleganten vornehmen Herrn ähneln, den wir damals auch in Berlin, sozusagen „in Zivil" sahen: dem kleinen Mann mit dem schönen Kopf, dem angegrauten, korrekt gescheitelten Haar, den gütigen blauen Augen, mit den zierlichen Füßen und den schmalen Händen? Diesem noblen Mann aus Amerika, bei dessen Erscheinen im Theater, wo man gerade „Liliom" spielte, das Haus sich spontan erhob wie vor einem Fürsten, um ihm erst schweigend und dann mit einem Orkan der Begeisterung zu huldigen?
Man weiß nicht, in welcher Gestalt er wiederkehren wird. Der gescheite Chaplin hat es abgelehnt, über seine Pläne sich zu äußern, wiewohl sie anscheinend schon lange mehr nur als Pläne sind. Nur soviel steht fest: Charlie der Vagabund
war zum letzten Mal in „Modern Times" zu sehen. Auch seit dem Tonfilm stand es für ihn fest, daß seine Gestalt nur zu sehen, nie zu hören sein dürfe. Doch nicht deshalb, weil er den Tonfilm ablehnte, oder weil seine Stimme zur mechanischen Wiedergabe auf Streifen und Platten nicht taugte. Das war eine der vielen Chaplin-Legenden. Chaplin kam ja zum Film vom Theater: über die Revue, von der Sprechbühne. Es existieren sogar einige Dutzend Platten, die er zu seinem Privatvergnügen besungen hat; und als er in „Modern Times" plötzlich sein berühmt gewordenes Liedel trällerte, da wars, als wolle er die tausend Biographen ad absurdum führen, die das Märchen verbreiteten, er habe keine Stimme. Der Künstler Chaplin hatte es sich selbst vorgeschrieben, daß Charlie ein stummer Vagabund sein und bleiben müsse, auch als die technische Möglichkeit gegeben war, den jahrzehntelang Stummen reden und singen zu lassen. Wir erkennen rückschauend, daß in der Tat der nicht-mehr-stumme, daß ein redender und singender Charlie wahrscheinlich ebenso eine Unmöglichkeit gewesen wäre wie etwa eine singende Pawlowa. Die Stummheit war das stärkste Element des grandiosen Duldens, das dieser Landstreicher leidend und überwindend durch alle Wirren der Welt trug. Zwar soll Chaplin gesagt haben, er bleibe stumm, damit ihn auch der Kuli in China verstehe. Doch auch dies ist wohl eine Legende; denn man würde ihn mit jedem Ohr und in jeder Sprache verstehen und hat
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