Marianne Rein: Märchen von den vier Brüdern

entgegenblinkte, sondern der Fluß erstarrt lag unter der grün­lichen Decke wachsenden Eises, da war ihm, als werde er zu seinem eignen Schatten und löse sich schwach von sich selber. So taumelte er durch die Tage und blickte angstvoll auf die gefangenen Wasser, die der Frost immer fester in Fesseln schlug. Am kürzesten Tag geriet er an einen See, durch dessen Eisdecke dunkle Augen zu blicken schienen. Begierig nach dem Anblick lebendigen Wassers verließ er das Ufer, glitt zu einem der auf­gehackten Fischlöcher, und die Frage nach dem Sinn löste sich halb unbewußt von seinen Lippen, mehr ein Seufzen. Das Bersten des Eises drang nicht mehr zu seinen Ohren, als sein Fuß auf der Glätte fehltrat und die dunkelnde Schwärze des Wassers ihn einzog.

Der letzte harrte treu der Rückkehr der Brüder, obwohl die Weisheit des Herzens ihm die Antwort schon lange gegeben hatte; aber noch hatte keiner ein Zeichen gesandt, und seine Hoffnung war wie ein Ball, hin- und hergeschleudert zwischen Zuversicht und Befürchtung. Er suchte nicht nach dem verhor­nen Sinn, lebte seine Menschentage und tat seine Arbeit, und da er in Ruhe werkte, nicht in Unrast suchte, fiel das Wissen darum ihm von selber zu: nicht auf einmal wie ein funkelnder Blitz, der einen Augenblick aufzuckt, um das Auge in doppelter Dunkelheit zurückzulassen, da es, unfähig so rasch zu schauen, sofort wieder vergessen muß, was an Erleuchtung ihm zufiel. Nein, das Wissen wuchs in seinem Gemüt, wie eine schöne Fernsicht, auf die man zuwandert, allmählich deutlicher vor den Blicken liegt, mit immer schärferem und klarerem Umriß, ohne daß Eile den Genuß der Wanderung trübt. Er sah viele Gesichter auf seinem Weg, junge und alte, frohe und bedrückte, ruhige und bewegte. Auch ihm brannte das Feuer, wehte die Luft, strömten die Wasser, aber immer hielt die lebendige Erde, über die er bewußt und festen Schrittes ging, ihn davor zurück, in unklarer Sehnsucht zu ver­brennen, zu zerstäuben, zu zerfließen. So vergingen ihm die Jahre, und er harrte nicht mehr auf die Zeichen seiner Brüder. Zu ge­wiß wußte er, daß sie verloren waren, verzehrt, aufgesogen, zerflossen in Sehnsucht.

Er erkannte, daß sie Toren waren, die das Ende vorweg­nehmen wollten, als sie noch am Anfang ihrer Aufgabe stan­den: vor dem Leben selbst. Das Nächste immer galt es zu tun, zu leben, zu schauen, zu schaffen, und als Gnade winkte am Ende die Einsicht, daß Aufgabe und Sinn ineins verschmolzen. Dann nahten wohl der feurige Schein, die wehende Luft, die ewigen Wasser und nahmen sanft ihren Teil von dem, was er­füllt zurückkehrte zu der lebendigen Erde, aus der einst Gott den Menschen schuf.

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