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Sehnen der Einzelwesen übereinstimmend sein. Und unter dem Einfluß der geistigen Strömungen der Zeit werden diese Wünsche in einer charakteristischen Form zum Ausdruck kommen. So ist unter dem Druck des harten Judenloses bei den einzelnen Gliedern der Judenheit der Grund des Mißbehagens fast überall derselbe, und das Zukunfte- verlangen geht überall in die gleiche Richtung. Eine Abstraktion aus den unendlich vielen Sonderzielen wird dadurch ermöglicht, die über die unbestimmte allgemeine Glückssehnsucht hinausgeht, konkrete Züge aufweist und nach Form und Ziel scharf begrenzt ist. Die Synthese der übereinstimmenden Einzelhoffnungen schafft einen neuen Inhalt, der unabhängig und objektiv werdend einen dauernden Charakter gewinnt. Das Glück des Voiksganzen wird ein selbständiger Faktor, und es entsteht ein n e u e s Judentum, das Judentum der J u d e n h e i t!
Hier liegt auch im letzten Grunde der Scheideweg, an dem religiöses und nationales Judentum sich trennen» Jenes ist das Judentum der religiösen Idee, dieses ist das Judentum der Judenheit! Nur wenn man dieses grundsätzliche Auseinandergehen übersieht, kann man an eine Umwandlung des Nationaljudentums glauben, die in seinen Mittelpunkt die Religion setzt, die überhaupt eine einheitliche über die Bedürfnisse der Zeit und ihrer Ereignisse hinausgehende Stellungnahme zu ihr mit sich bringt. Ein solcher Schritt würde die Selbstverneinung seines Wesens bedeuten. Nationales Judentum ist ein geschlossenes System, das man nur als ein Ganzes ablehnen oder annehmen kann.
Das Problem, ob dieses neue Judentum', das aus Judenheitsidealen hervorgegangen ist, sich mit dem historischen Judentum vereinen läßt oder ob es sich auch nur mit ihm verträgt, ist für diese Ausführungen ebensowenig von Interesse wie das System und das Ziel eines jeden anderen Judentums, das sich als eine Synthese von übereinstimmenden Judenheitsidealen darstellt. Denn da die Wünsche und Hoffnungen der Judenheit von Zeitströmungen und der Kultur der Umgebung abhängen, könnten naturgemäß unendlich viele Gebilde dieser Art entstehen. Hiev steht in Frage nur das Verhältnis zwischen dem Judentum als dem von Zeit und Ort wie von der Zahl der Bekenner unabhängigen, religiösen Gebilde und der Judenheit als den vielen einzelnen Menschen, dio durch außerhalb ihres Machtbereichs liegende Ursachen zu Trägern des Systems geworden sind.
Das traurige Schicksal der Judenheit, die steten Verfolgungen und Vertreibungen, die ruhelose Unsicherheit der nur Geduldeten währt schon fast zwei Jahrtausende, und trotzdem ist die Judenheitsfrago erst im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts brennend geworden. Bis dahin herrschte die Idee unumschränkt, das Judentum übte eine unendliche Macht über die Gemüter aus, und seinen Forderungen gegenüber gab Mis nur unbedingte Unterwerfung. So entstand das Martyrium! Eine bis zum äußersten getriebene Selbstverleugnung ließ den einzelnen sein individuelles Glück einzig und allein in der Hingabe für die Ziele der Religion erblicken, und sein felsenfester Glaube machte es ihm