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Kultur des Ganzen. Beide Dinge sind lediglich theoretische Voraussetzung;. Praktische Bedeutung erhält sie erst durch zwei subjektive Momente, durch Achtung auf der Seite der Mehrheit, durch Festigkeit und innere Sicherheit bei dem Teile, der die Gleichstellung erstrebt. Und diese Bedingungen sind abhängig von der Stellung des Juden t u m s! Solange seine Lage sich deutlich zum Nachteil von der anderer Gemeinschaften abhebt, wird der Nichtjude eine restlose Achtung nie empfinden. Mag er das Individuum noch so sehr schätzen, seine Religionszugehörigkeit, wird ihm als etwas Fremdes, der Erklärung Bedürftiges erscheinen, jedenfalls aber als eine Herabminderung seines Wertes. Und der Judo wird unzufrieden und verbittert auf die Stellung seines Glaubens schauen und niemals zu einem wirklichen seelischen Gleichgewicht kommen. Der instinktive Widerwille, der in den Kreisen der äußersten Orthodoxie gegen den Gleichberechtigungskampf empfunden wird, hat hier seine Quelle. Er entspringt der Erfahrung, daß die Dissonanz zwischen der Stellung von Juden tum und Juden h e i t den Abfall fördert, und da diese Richtung die unfreie Stellung des ersteren gewissermaßen als unabänderliches Fatum hinnimmt, muß sie logisch die völlige Gleichstellung des einzelnen Juden mit seiner Umgebung verwerfen.
Es ist fraglos, daß eine unfreie Judenheit den geeignetsten Schutz für das unfreie Judentum darstellt. Gegen Naturnotwendigkeiten und ihren geschichtlichen Ausdruck kann man aber nicht ankämpfen. Die Erlösung von jedem Druck ist ein selbstverständliches Sehnen der Menschenseele, das nicht ausgemerzt werden kann. Freiheit der Persönlichkeit ist eins der letzten Ziele der Kulturentwicklung. Eine wirkliche Erhaltung des Judentums durch ein künstliches Ghetto ist darum eine psychologische Unmöglichkeit, wenn auch manche jüdische Kreise im geheimen mit dieser Idee liebäugeln. Da nun auf der anderen Seite die bloße Gleichberechtigung der Juden heit zur Vernichtung des Judentums führen kann, während sie noch dazu ein nie völlig zu erreichendes Ziel darstellt, solange das Judentum nicht gleichberechtigt ist, muß der andere, der. natürliche Weg eingeschlagen werden. An der Lösung der Judenfrage, die durch das Verschwinden des Judentums zu erreichen ist, der radikalsten, die es gibt, haben wir kein Interesse. Und die Bahn, die dem Gleichberechtigungskampfe damit vorgezeichnet wird, ist klar. Die Gleichberechtigung des Individuums muß aus der Gleichberechtigung der Gemeinschaft organisch herauswachsen!
So anerkenenswert die Einzelerfolge der praktischen Gleichberechtigungsarbeit auch sind, eine ganz reine Freude über volle Erfolge können wir an ihr nicht haben. Die unglückselige Lage der jüdischen Religionsgemeinschaft ist und bleibt das schwere, schleppende Bleigewicht. Besonders gilt das für Preußen, das ja leider durch das Vorbild seiner Einrichtungen auch in jenen süddeutschen Staaten wirkt, die an sich Ansätze zu einer besseren Bewertung aufweisen. In Preußen ist die Stellung des Judentums im Vergleich zu der anderer Gemeinschaften