354 Soziologische Tagebudiblatter Von Franz Oppenheimer 9 . Die Schriften zur Polen - und Judenfrage wachsen zahllos , wie Butterblumen im April . Fast alle haben nur soziologischen 0 b j o k t - wert ; sie sind Musterbeispiele für das sozialpsychologische Hauptgesotz , nach dem jedes Mitglied einer kämpfenden „ Gruppe " dasjenige fühlen und denken muß , was gerade der Gruppe nützlich und notwendig ist . Es sind Phonographen , die ihre Platten Abrollen und dabei glauben , ehrlich glauben , Menschen mit eigenen Gedanken zu sein , und nach objektiven Maßstitben zu werten . Die kleine Schrift von Dr . Max Rosenfeld : „ Polen und Juden " ' ) macht eino sehr angenehme Ausnahme . Sie ist das Werk eines gebildeten Volkswirts und Historikers mit so viel Objektivität , wie der Mensch mitten im Kampfe irgend aufbringen kann , und hebt sich als solches sehr erfreulich schon durch ihre Haltung aus der politischen Buttor¬ blumenliteratur heraus . Das predigt nicht , beschimpft nicht , klagt nicht an und keucht nicht : das sucht zu verstehen , auch den Gegner , und entwickelt in ruhiger Vornehmheit die Ideologie aller Parteien aus ihrer ökonomisch - sozialen Lagerung . Die Marxscho Geschichtsphilosophie , ist wahrlieh noch sehr unvollkommen , und doch kann man an diesem offenbar an Marx geschulten Denker sehen , wie weit überlegen schon diese kaum mehr als ihrer Absicht nach wissenschaftliche Geschichts¬ betrachtung dem ganz und gar im - oder hesser vorwissenschaftlichen Subjektivismus ist , den die meisten Politiker und Historiker für Wissen¬ schaft und Wahrheit halten . Von den praktischen Forderungen , in denen das Bändchen gipfelt , sei nur gesagt , daß sie ungefähr auf das Rennerscho Nationalitätcn - programin hinauslaufen , das auch wir an dieser Stelle verfechten . Und zwar auch mit Anwendung auf die jüdischen Massen Galiziens , Ru߬ lands ( die Broschüre ist noch vor der großen Umwälzung erschienen ) und Rumäniens . Es wird mit aller Klarheit gezeigt , daß schon vom rein politischen Standpunkt aus die Juden gar keine andere Lösung wollen können als die Ordnung ihrer sprachlichen und kulturlichen Angelegenheiten nach eigenem Recht imd unter eigener Verantwortung . Denn jede andere Lösung muß sie zum Korn zwischen den Mühlsteinen der einander bekämpfenden slawischen Nationalitäten machen , das ohne Gnade zermalmt wird . Läßt man ihnen nur die Wahl des An¬ schlusses an eine der kämpfenden Gruppen , indem man ihnen die eigenen Nationalrechte versagt , so zieht man ihnen mit Notwendigkeit die Todfeindschaft der anderen auf den Hals , ohne ihnen damit die Liebe und den Schutz der ersten zu sichern . Es gibt auch für sie keine andere Lösung ihres Existenzprobloms als die , die den Nationalitäten¬ staat überhaupt erst auf die Dauer möglich machen wird : die Freiheit in allen Dingen , die den Staat als solchen nichts angehen , den Dingen l ) Vertag 11 . Löwit , Berlin und Wien 1917 » 63 Seiten . Preis M . 1,20 . |