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raathematische Knappheit im Ausdruck, die dem Scharfsinn und dem Deutungsvermögen des Lesers viel Spielraum bietet.
Der Talmud hat einen, im gewissen Sinne, lexikalischen Charakter. Den Ordnern kam es darauf an, recht viel zu verzeichnen und alles nur Wissenswerte hineinzubringen. Der Vortrag hält sich an ein bestimmtes Schema; es fehlt meistenteils die Wucht und die innere Begründimg. Es gibt aber eine Unzahl von Fragmenten, die einen im Bann halten; von besonderer Wirkung sind die Legende, die Parabel und der Spruch. Die Sentenzen im Talmud sind unübertoffen. Für alle Lebenslagen kann man sich aus dieser Rüstkammer ein Sprüchlein holen; von diesen sind manche belehrender und ermahnender Natur, manche rügen und spotten der menschlichn Schwächen, manche geben von den verborgensten Gängen der Seele kund. Diese Stücke aber, die, nur halbwegs geordnet, jeder religiösen und Weisheitsliteratur zur Zierde gereichen würden, büßen vieles von ihrer Wirkung ein dadurch, daß sie in allen Teilen des Schrifttums zerstreut und mit unwichtigen Dingen vermengt sind. Das Tiefsto und Weltumfassendste wird nur wie nebenher ohne jede Feierlichkeit gesagt. Dem Redakteur des Talmuds war es offenbar einerlei, ob er Allegorien, Geistergeschichten, Heroensagen in seine Kompendien notierte oder von Reinigungsvorschriften und Speisegesetzen redete. Wir haben im Talmud vor uns die keuschesten Menschen, die ein Wort um zehn vertauschen, um nur nicht das Böse beim Namen zu nennen, dabei fehlt es selbst an Anstößigem nicht. Die talmudischen Lehrer sind mitunter Menschen ohne Galle und Leidenschaften, die nichts anderes vorhaben, als das Werk Gottes zu verrichten; mitunter aber sind es Schriftgelehrte, die von Eifersucht gegeneinander verzehrt, und es fliegt bei manchem Disput ein recht giftiger Pfeil. [Das Lehrhaus ist des Schrif[gelehrten Welt.
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Der Talmud rief ein Schrifttum hervor, daß von viel größerem Umfang ist, als er selbst. Gleich nach seiner Abfassung begann man, Auszüge aus ihm zu machen. Es häuften sich die Kompendien; Kommentare und Erklärungsschriften wuchsen ohne Zahl. Jede Hochschule hat eine besondere Art in der Auslegung des Talmuds geschaffen. Es entstanden Streitigkeiten, die die gesamte Judenheit zu zerreißen drohten. Wer ordiniert werden und die Befugnis erhalten wolle, als Lehrer und Richter in Israel zu wirken, wußte soundso viel Traktate auswendig lernen und unzählige Fragen aus dem Stegreif beantworten können. Es galt als eine besondere Kunst, das Ende des einen Traktates mit dem Anfang des folgenden kasuistisch zu verbinden. Tag und Nacht wurde der Talmud studiert, Geschlechter haben der Erforschung seiner Geheimnisse das Leben geweiht.
Die Juden des Ostens und die des eigentlichen Orients sind jetzt die alleinigen Erben des talmudischen Wisens. Der Talmud ist ihnen kein historischer Gegenstand, sondern eine Sache des Lebens. Ganze Ab- schnitt* aus den fünf Büchern Moses werden der Reihe nach jeden Sonnabend im Bethause aus einer Pergamentrolle vorgelesen. Darauf wird