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glaubt jemand im Emst, daß der schwere sittliche Zorn eines Arnos, die schwermütigen Gleichnisse Höseas, die leuchtenden Visionen Jesajas, die wundervollen Dichtungen und Bilder Jeremias durch das Wort Ekstase oder Autosuggestion dem elementaren Verständnis irgendwie näher gebracht sind? Nicht auf die ekstatische Form der prophetischen Rede kommt es an, sondern auf die Form schlechthin, und diese Form ist auch nur Ausdruck einas Inhalts, in dem das eigentlich Entscheidende für unser Werturteil beschlossen ist» Das „ekstatische Prophetentinn" ist überhaupt kein Begriff, der auf die klassische Prophetie anwendbar ist. Ekstatiker im Sirine Hölschers sind die Baalspriester, die um .den Karmelaltar rasen und sich blutige Schnitte beibringen, sind die „Prophetenschüler", nach deren wirbelndem Tanz Saul halbtot hinsinkt, sind die tanzenden Derwische des Islam und die Fakire Indiens. Aber in einem ganz anderen Sinne sind es Jeremia und Deuterojesaja, in demselben Sinne vielleicht wie Tyrtäus, Franziskus von Assisi, Giordano Bruno, Schiller, Tolstoi, Nietzsche: Männer einer lodernden Begeisterung, die Inhalt und Form gleichermaßen in den Dienst eines geistigen Zieles stellt. Es ist also ein Mißbrauch des Begriffs der Ekstase, wenn man so grundverschiedene Erscheinungen wie die kan&anäische Mantik und die klassische Prophetie mit ihm bezeichnet. Und wenn vollends Hölscher die gewaltigen Gesichte, die in Jeremias Skythenliedern niedergelegt sind (man vgl. Jer. 4,23—26!), mit dein Wort Halluzination oder halluzinatorische Vision abtut, so ist das ein Mißbrauch mit einem naturwissenschaftlichen Begriff, den der Naturforscher am wenigsten verzeihen kann.
Am Schluß dieses Abscnnittes spricht Hölscher (S. 355) vom „Erlöschen des prophetischen Geistes". Dies hatte ihm selbst zu denken geben müssen. Denn der Geist der Ekstase ist damals nicht erloschen, sondern hat dauernd weitergewirkt in den jüdischen und christlichen Apokalyptikern, in 4en Asketen und Derwischen, in den Geißlern und Wiedertäufern, bis herab auf unsere Zeit in den Chassidim und in okkultistischen Zirkeln. Aber die klassische Prophetie freilich, die nicht Ekstase ist, hat nur eine kurze Blüte von 200 Jahren gehabt, sie war zeitlich begrenzt wie jede große geistige Bewegung.
Weit entfernt also, uns über Wesen und Zustandekommen der prophetischen Inspiration neue Aufschlüsse zu schaffen, beschränkt sich Hölschers Untersuchung auf gewisse, im ganzen nebensächliche Begleiterscheinungen der Prophetie. Dieser Fehlschlag ist aber schon tief begründet h seiner allgemeinen Methodik, und das ist grundlegend wichtig für eine ganze Arbeitsrichtung der vergleichenden Bibelwissen- schaft. Hölscher bemüht sich, wie viele andere, aus geschichtlich verwandten oder psychologisch nahestehenden Erscheinungen bei anderen Völkern des alten Orients Aufhellung für die Probleme der Prophetie zu gewinnen. Aber das wesentliche der israelitischen Prophetie ist grade das, worin sie sich von ähnlichen Erscheinungen unterscheidet, nicht das, worin sie mit ihnen übereinstimmt. Das Spezifische der jüdischen Erscheinung gilt es zu erfassen. Das Geheimnis liegt darin, daß aus der gleichen