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Di* ■ BlOCh 8 Jahrgang XIII.
Centralorgan für die gesammten Interessen des Iudenthums.
Wien, 28. Februar 1896.
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Inhalt: Leitartikel: Die Führung der österreichischen Socialdemokratie. — Weshalb missioniren die Inden nicht? — Die „Berjudnng" der Universität. — Die moderne Frauenbewegung im Lichte des Judenthums. — Cultus-Steuer. — Das Judenthum und die sittlich- religiöse Erziehung. — Vom Jahrmarkt des Lebens: Die Druckschriften des Pfarrers Deckert. Die Juden als Wurzen. Aufhängen oder Aushungern. Egidy über seine Stellung zum Antisemitismus. Der Schelm von Wien. Ein Lueger-Verehrer. Die „Standesehre" der Officiere. Cardinal und Bildhauer. Statistisches. Blutaberglaube in Frankreich. Eine arische Heiratsannonce. Arischer Thierschutz. — Correspond enzen: Wien, Neutra, Mähr.-Aussee, Brünn, Kolin, Breslau, Bremen, Sofia, London, Perth, Melbourne, Jerusalem. — Vermischtes: Wien, Mißlitz, Gewitsch, Budapest, KoFtein, Brody, Lemberg, Malaczka, Austerlitz, Podgürze, Paris. — Berger. — Feuilleton: Kinder des Ghetto. — Literatur. — Briefkasten. — Inserate.
Die Führung der österreichischen Sorialdemobratie.
In die diesmaligen Gemeinderathswahlen ist auch die soeialdemokratische Partei durch die Verlautbarung eines eigenen Arbeitsprogrammes und durch die Aufstellung selbst- stältdiger Candidaten eingetreten. Kein ehrlich freisinniger Mann wird den Socialdemokraten aus der Thatsache an sich, daß sie im offenen Kampfe ihre Grundsätze bethätigen wollen, einen Vorwurf machen, und am allerwenigsten wird dies irgendwer von unseren Glaubensgenossen thun, die ja umso sympathischere Gesinnungen für alle politisch Rechtlosen hegen müssen, je mehr ihre eigenen staatsbürgerlichen Rechte bedroht sind. Es ist kein bloßer Zufall, daß die energischesten und begeistertsten Verfechter der Interessen der Arbeiter- classe aus den Reihen des Judenthums hervorgegangen sind, daß Karl Marx und Ferdinand Lassalle Juden waren und daß die socialpolitischen Forderungen der Zeit in der jüngeren Generation unserer Glaubensgenossen zahlreiche und eifrige Anwälte finden. Und ebenso können wir mit Genug- thuung constatiren, daß innerhalb der organisirten Arbeiterschaft der Antisemitismus bis heute keinen Boden gefunden hat und daß die tüchtige politische Schulung dieser Arbeiterschaft auch für die Zukunft eine entschiedene Abweisung der von den Judenhetzern unternommenen Werbungsversuche erhoffen läßt.
Aber wenn wir von den Arbeitern sprechen, so meinen wir die wirklichen, aus der breiten Schichte des Proletariats hervorgegangenen Lohnarbeiter und nicht einzelne ehrgeizige Führer, die aus bürgerlichen Kreisen hervorgegangen sind. Diese Führer scheinen von der mehr oder minder bewußten Empfindung beherrscht zu sein, daß sie bei ihren proletarischen Genossen ihren bürgerlichen Ursprung vergessen machen müssen, und sie haben deshalb den Classenhaß zu einer maßlosen Höhe gesteigert. Dazu kommt noch, daß die Herren Dr. Victor Adler, Dr. Ellenbogen und Dr. Ingwer Juden sind oder waren und den von antisemitischer Seite gegen sie erhobenen Vorwurf abwehren müssen, daß sie die socialdemokratische Partei jüdischen Zwecken dienstbar machen
wollen. Sie glauben dieser Verdächtigung nicht besser die Spitze abbrechen zu können, als indem sie selbst, wenn auch in gedämpfteren Tönen wie die Herren Lueger, Geßmann und Schneider in das antisemitische Horn blasen.
Die Parteileitung der österreichischen Svcialdemokratie hat bisher Fehler auf Fehler gehäuft. Sie war bornirt genug, als Graf Taaffe in seinen! Wahlreformentwurf vom 10. October 1893 das allgemeine Wahlrecht bot, eine Stellungnahme für diesen Entwurf mit der kindischen Phrase abzuweisen, daß sie dem Grasen Taaffe nicht „die Kastanien aus dem Feuer holen wolle", und sie ist heute ebenso bornirt, den Wahlreformentwurs des Grasen B a d e n i zu bekämpfen, der das Princip des allgemeinen Wahlrechtes wenigstens soweit in unsere Verfassung einsührt, als dies unter den gegebenen parlamentarischen Verhältnissen möglich ist. Dieselbe Beschränktheit und Kurzsichtigkeit, welche sie bei dieser politischen Cardinalfrage bekundeten, zeigen die socialdemokratischen Führer auch in ihrer Haltung gegenüber den einzelnen politischen Parteien. Die Socialdemokratie hat naturgemäß keinen grimmigeren und unversöhnlicheren Feind, als die clerical-feudale Partei mit derem bürgerlichen Schwänze: den Antisemiten.
Der immobile Besitz auf der einen und das verzopfte Kleinbürgerthum auf der anderen Seite müssen ja in der fortschreitenden industriellen Entwicklung und in dem Gleichheitsprincipe eine furchtbare Gefahr für ihren Bestand erblicken, während das mobile Capital und dessen politische Vertretung, die liberale Partei, immer daraus bedacht sein niüssen, eine Ausgleichung ihrer politischen und wirthschaft- lichen Interessen mit jener der Arbeiterschaft zu suchen. Das haben auch die deutschen Socialdemokraten längst erkannt und sie hassen und bekämpfen nichts mit solcher Vehemenz und Erbitterung, als das agrarische Junkerthum, während sie mit den freisinnigen Bürgerparteien wiederholt Wahl- compromisse abgeschlossen haben.
Die Führung der österreichischen Socialdemokratie thut das gerade Gegentheil. Sie richtet ihre Angriffe fast ausschließlich gegen das mobile Capital, sie arbeitet den Agrariern, den Feudal-Clericalen und den reacüonären Klein-