Nr. 13
Dr. Vloch's Wochenschrift.
Seite 353
geführt werde; und da trotz des auf allen Linien siegreichen Vordringens der Socialdemokratie noch immer auch bürgerliche, das heißt auf den Boden des Unternehmerthums stehende Deuker ihre ganze Geisteskraft dem Riesenprobleme der socialen Frage widmen, so kommt es höchst erfreulicher Weise doch noch ziemlich häufig vor, daß neben dem wüsten Geschrei der blinden Antisemitenraserei auch aus dem Lager der christlichen Bourgeoisie sehr erfreuliche Stimmen sachlicher Erwägung und ruhiger Ueberlegung zur socialen Frage im Allgemeinen und zur Judenfrage im Besonderen ertönen.
Eine solche Stimme, welche also namentlich von den Inden gehört zu werden verdient, ist die neueste Schrift von Alfred Off ermann: „Das fictive Capital als Ursache niedrigen Arbeitslohnes" (Manz, Wien 1806, 235 S. Lex., Preis). Der Verfasser, welcher offenbar nur als freier Forscher und Schriftsteller genommen werden will und wohl deshalb auf dem Titelblatte weder seinen Freiherrntitel, noch seinen großindustriellen Beruf nennt, kommt naturgemäß auch auf die Judenfrage zu sprechen, und es wird daher den Lesern dieser Zeitschrift gewiß sehr willkommen sein, ein so leidenschaftsloses und zutreffendes Urtheil aus so bedeutsamen Munde zu hören, wie es die Stimme des in den Kreisen der volkswirthschaftlichen und der politischen Wissenschaft durch seine früheren Arbeiten schon bekannten Brünner Fabrikanten und Freiherrn Alfred Offermann ist. Eine eingehende Besprechung der sehr anregenden Schrift an dieser Stelle würde, so lockend die Aufgabe ist, den Rahmen dieser Zeitschrift überschreiten; die, wie sogleich eingangs betont wurde, nicht nur für den Fachmann bestimmte, sondern für jeden Gebildeten beziehungsweise Bildungsbeflissenen sehr und für den Juden doppelt werthvolle Schrift soll hier blos angezeigt werden, wozu nachstehende Anführungen gewiß einen besonders willkommenen Anlaß bieten. Wohl nimmt der christliche Autor, welcher jedenfalls, wie fast alle Christen, die Sittenlehre des mosaischen Gesetzes und der Propheten nicht zur Genüge kennt, für die christlichen Religionen als ganz besonderes Kennzeichen derselben das hohe Verdienst in Anspruch, unausgesetzt „altruistische Gefühle" in die Menschen verpflanzt zu haben und die Nächstenliebe, die Bethätigung des Altruismus, in den Menschen zu züchten. ^Nichtsdestoweniger nimmt der hochgebildete, mit naturwissenschaftlich- philosophischem Rüstzeug und mit bedeutenden vvlkswirth- schaftlichen Kenntnissen ansgestattete Schriftsteller schon bei dieser Gelegenheit entschiedene Stellung gegen den Antisemitismus ; auf Seite 37 heißt es: „Aber trotzdem, oder- besser, gerade deshalb bleibt der Antisemitismus eine so unerquickliche anachronistische Erscheinung. Der, unserer socialen Entwicklung zu Grunde liegende Proceß, Alle allmählich in den- Kampf um» D a- fein unter gleichen B e d i n g u n g e n h e r ei n- z u z i e h e n, widerspricht direct den Bestrebungen, einen Theil unserer Mitbürger von diesem Vortheile ausschließen zu wollen. Der A n t i s e m i t i s m u s st r e b t, die Auslese zu v e r r i n g e r n u n d s vmit d e n Fortschritt zur Stufe höchster s o c i a l e r Kraftentfaltung zu hemmen." Für die Herren Schneider, Pacher und Genossen ist natürlich eine solche Sprache viel zu hoch, ein solches Deutsch ganz chinesisch ! Wären die genannten Faustpolitiker und Ränkeschmiede nur irgendwie eines Besseren zu belehren und zu bekehren, so müßte ihnen das Studiuni der Seiten 194 und 195 die Augen öffnen; dort ist zu lesen: „Es ist nicht zu leugnen, daß der überhandnehmende Antisemitismus aus der bestehenden Begriffsverwirrung seine beste Nahrung zieht. Die Thatsache, daß auf der Börse Leute ohne jede Bildung und Verdienst mühelos über Nacht große Vermögen gewinnen, während Lehrer, Beamte, Richter u. s. w., ebenso wie der producireude Mittelstand und die Arbeiter immer schwerer das nackte Auskommen sindeu, wird von den Reactionären geschickt zum Hasse gegen die Juden als solche benützt. Nun sind freilich Dreiviertel der Börsenbesucher und wohl die
meisten, durch den Handel in Werthpapieren großgewordenen Capitalisten Juden; der Handel war ja für die Inden, die sich von anderen Lebeusberufen, wie vom Staats- und Militärdienste, so gut wie ausgeschlossen sahen, stets die Zuflucht.
Daß sie den Handel in Werthpapieren bald u n t e r den gegenwärtigen Verhältnissen als den lucrativsten Zweig erkannten, spricht für ihr angeborenes G e s ch ä f t s t a l ent, ist aber kein B o r w u r f, der sie treffen kann. Dieser dankbare Geschäftszweig st e h t All e n, Juden und Christen, gleich offen. Die ganze Schuld trifft i m m e r nur die I n st it u t i v n des f i c t i v e u C a p i t a l e s, die beweglichen E i g e n t h u m s t i t e l s e l b st. Denn würden alle Inden verbrannt werden, jedoch die Renten und Aktien bestehen bleiben, so würde kein J-Tüpfchen an dem Thatbestand geändert sein, daß das sictive Capital, neben seiner hemmenden Wirkung ans die eigentliche Capitalsbildung. das vortrefflichste Mittel ist, sich unvermerkt einen großen Theil des Arbeitsertrages Anderer anzueignen.
Ob d a n n d i e künftigen Besitzer und Händler v o n W e r t h p a p i e r e n ausschließlich Christen sind oder, w i e j e tz t, st a r k m i t I u d e u u n t e r m i s ch t, i st für die Sache selbst v o l U ständig gleichgiltig. Die beste eigene Abwehr der Juden gegen den Antisemitismus wäre, wenn sie das Ihrige zur Aufstellung des Thatbestandes in unserem Sinne beitragen wollten. Die Preß- und Geldmittel stehen ihnen reichlich zu Gebote."
Ganz gewiß werden weder die „Neue Freie Presse", noch das „Berliner Tageblatt', weder die Rothschilde noch die Bleichröder das Offermanusche Buch studireu und mit Beifall begrüßen: möge aber jener Theil der jüdischen Intelligenz, welcher weder dem goldenen Kalbe, nocf) der goldenen Feder dient, und dieser Theil der gebildeten Inden ist wahrlich kein geringer, in diesem Sinne „wahrhaft" Abwehr leisten und der neuesten Arbeit Alfred O f f e r m a n n's, des christlichen Brünner Fabrikanten und Schriftstellers — der Freiherrn-Titel kommt bei einem Manne der freien Wissenschaft außer Spiel — die gehörige Beachtung widmen!
Praktischer Idealismus.
Unsere Zeit bringt immer neue Erscheinungen auf geistigem und politischem Gebiete hervor. Ter p r a kt i s ch e Idealismus ist auch ein modernes Erzeugniß und bildet das Symptom eines ungesunden Zeitalters. Und wie alles Paradoxe und Absurde zeigt sich auch diese neue Speci- alität besonders in den Reihen der stürmischen Weltreformer antisemitischen Bekenntnisses stark vertreten. Man pflegt gewöhnlich den Idealismus als Gegensatz zum Materialismus, zum Praktischen zu betrachten. 'Nun, es zeigt sich jetzt, daß auch der Idealismus sehr einträglich sein kann, daß seine Träger schon hier, im irdischen Jammerthal, ihren wohlverdienten Lohn in klingelider Münze erhalten. Auch der Jde- alisulus kann reich machen, man muß die Sache nur von der richtigen Seite anfaffen.
Niemand aber hat es in dieser neuen Kunst soweit gebracht, wie der Held aller deutschen Tugenden, der Obernationale, Tr. Friedrich Lange, weiland Chef- redacteur der an der deutsch-antisemitischen Cultur marschi- renden „Täglichen Rundschau" in Berlin. Lange hat das freilich nicht mehr seltene Kunststück fertig gebracht, sich vom Liberalen bis zum radicalen Antisemiten hinaufzumausern. Er hat eine vom Dichter B o d e n st e d t begründete unparteiische Zeitung in ein gehässiges Organ für Judenhetze verwandelt. Und doch — wir gestehen es — waren wir {crnge Zeit so naiv, ihn für einen ehrlichen Politiker, für einen Mann von treuer Ueberzeugung zu halten. Warum soll man schließlich seine politische Meinung nicht ändern