Nr. 22
Vrv V'och's Wochenschrift. senr
Dies aber sollte nun den kommenden Geschlechtern einge- prägt werden, und dies auch ist es, welches im Sinne des alten Psalmisten für die heutige Gährung in Israel in Erinnerung zu bringen so nöthig erscheint.
Auch wir sagen uns täglich: „Ich glaube mit unentwegtem Glauben an die Ankunft des Erlösers, nnd wenn sie sich auch gar so lange verzögert — ich verzage nicht, ich harre aus, trotz allem spreche ich — ich erwarte ihn bestimmt, er kann täglich kommen!"
Diese Tradition ist es. die uns aufrecht erhält — es gibt aber andere unter uns, die in diesem Glauben durch die traurigen Verhältnisse wankend werden; dieser vertrauensvolle Glaube ist ihnen nicht genug, sie wollen selbst politisch Eingreifen: sie sagen sich; Israel hat so viele Hilfsmittel, hat muthige, tapfere, kluge Männer, es kann sich selbst Hilfe bringen. Das ist ein Unglück, wenn wir aus Mangel an Geduld und aus Schwäche im Glauben nicht ausharren wollen. Mit diesem politisch geschärften und zugespitzten jüdischen Nationalismus verfallen wir in den Fehler der „Ephraimssöhne" der egyptischen Zeit, gefährden uns selbst und können das bereits bestehende Goluth nur noch erschweren. Dem gegenüber gilt es noch heute, daß Israel dort — dem Berge des Nationalismus gegenüber — Wache halte, daß es seine Weltreligion im Idealismus des humanen Wirkens für die gesammte Menschheit sich erhalte und bewahre.
Und dennoch soll hiemit nur gesagt sein, daß der Religion — dieser die Menschheit umschließenden — nur der Vorrang vor dem nationalen Gedanken eingeräumt werde, nicht aber, daß der letztere ganz in Israel ersterbe, oftmals soll er sogar der Erhaltung dieser Religion als Ergänzung dienen.
Jnsolange nämlich die Völker abseits von uns stehen, würde Israel sogar einen Selstmord begehen, wenn dieses kleine, zerstreute, überall gehetzte und mißverstandene Völkchen sich in diesem tosenden Kampfe der Waffe des nationalen Einheitsgedankens gänzlich begeben wollte; auch da gilt es wieder in anderem Sinne, dort — wo dieser nichtsverschonende Kampf wüthet — muß es ferner als ein geeinigt Jsraelvolk Wache halten, all den Hindernissen Widerstand zu leisten, die ihm seine Existenz erschweren/
Er darf nur nicht — dieser Nationalismus beim Juden — zum Selbstzweck ausarten, sondern nur als Mittel zum Zwecke dienen, nicht als die Erlösung selbst darf er gelten, sondern nur als vorübergehendes Palliativmittel zur Erhaltung; nicht als politisches Axiom, sondern nur als aneifern des Heilmittel gegen die Schmähung von Außen.
Klarheit hierüber gibt uns ein Vorgang — oder wie der Talmud behauptet, eine prophetische Vision — dargestellt in der heiligen Schrift. Ezechiel ist es, der sich auf einem weithin sich ausdehnenden Felde befindet, ringsherum sind nur schauererregende Massengräber, todte Gebeine zu sehen, Todtenstille um- giebt ihn, und inmitten dieser grausigen Grabesruhe ruft Gott ihm zu: „Glaubst du, daß diese Gebeine wieder Leben erhalten können ?" Und der Prophet antwortet tiefergriffen: „O Gott und Herr! Das kannst nur Du wissen!" Plötzlich entstand ein Rauschen, ein Sturm erhebt sich, wühlt die Gräber auf. und, o Wunder! Die Gebeine fügen sich zusammen, sie erhalten Fleisch und Muskel, sie bedecken sich mit Haut, sie erheben sich, stehen auf und gehen auf die Wanderung, und Gott spricht zum Propheten: „So auch werde ich dich, mein Volk, erheben aus den Gräbern!"
»Wer waren nun diese Todten" — frug der Talmud — „die Ezechiel zum Leben erweckt hatte? Es waren die Söhne Ephraim's" — erhalten wir zur Antwort — „die hatten berechnet, es wäre bereits das Ende des Goluth gekommen, hatten sich aber geirrt/ Da haben wir das Bild aus der jüngsten Zeit, die wir miterleben. , Auch in Egypten hatte es zur Zeit der Söhne Ephraim's gewiß Todte gegeben in Israel, nicht wirkliche Todte, aber Abgestorbene, dem jüdischen Erlösungsgedanken Entfremdete. Es erfaßte sie die Verzweiflung, die sie den Glauben hieran verlieren ließ, daß sie sich sagten „verloren ist unsere Hoffnung", es ist aus mit der jüdischen Nation, nichts kann ihr mehr helfen. So entstanden die „Ephraimssöhne", die noch das Selbstbewußtsein sich erhalten hatten; sie übertrieben es zwar, indem sie es politisch gestalteten, bereiteten sich hiedurch ein vorzeitiges Ende und wurden ein Opfer ihres überspannten Idealismus, aber eines hatten sie für die Ueberdauernden erreicht, sie hatten das jüdische Nationalbewußtsein neu erweckt, welches bereits abgestorben war; in ihrer Verirrung waren sie die Märtyrer ihrerUeberzeugung geworden,die immerhin der Hochachtung
würdig waren. Das waren die wiederbelebten Todten aus der Zeit des egyptischen Goluth, die Ezechiel im Geiste wiedersah im babylonischen Exil, das ist es auch, was wir heute mit ansehen in unserem Goluth.
Auch wir hatten bereits Todte in der Judenheit, dem jüdischen Volke Abgestorbene, aber nicht etwa durch das Goluth, sondern durch die vermeintliche „Geulla", durch die Ze.it, in der wir in verblendeter Kurzsichtigkeit glaubten, die Erlösung sei schon gekommen. Es war, als vor drei Jahrzehnten die Constitution aufleuchtete; ach! da gab es so viele Todte in Israel, die dem Judenthum abgestorben waren.
Wir können sie uns noch aufzählen, denn wir haben sie noch von Angesicht zu Angesicht gesehen. Es waren die reichen Juden, die da glaubten, das Judenthum paffe nicht zu ihrer Salons — und sie entfremdeten sich demselben; es waren ferner die Männer von Stellung, Amt und Würden, ebenso die Männer der Wissenschaft; selbst jüdische Theologen wollten alles altjüdischr ausmerzen; und sie starben dem Judenthum ab im Streben nach, der Assimilation, die nicht am Platze war und auch gar nicht gewünscht wurde; es waren die Männer der Presse und der Schriftstellerwelt, die sich oft über das Judenthum wegwerfend aussprachen und sich gerne über dasselbe hinwegsetzten, auch diese waren der jüdischen Nation abgestorben; es waren endlich — was das traurigste war, weil hiedurch die Zukunft Israels bedroht wurde — die Angehörigen der gebildeten Jugend, die sich besonders in den Hochschülern repräsentirt, auch diese verlernten das Judenthum nnd schämten sich desselben, diese schienen für dasselbe vollends verloren zu sein. Das waren die Todten, die wir vor uns sahen; ein weithin sich ausdehnendes Feld von dürrem Gebein und Massengräbern, und Todtenstille herrschte im Gefilde Juda's. Jedoch Plötzlich entstand ein Rauschen, dieses Rauschen, es verstärkte sich nach und nach zum Sturm, es war neuer Lebenshauch, wie von Gott gesandt, gekommen; das jüdische Nationalbewußtsein blies durch das todte Gebein, es fügte sich eins ans andere, es wachte auf, es erhob sich, es wanderte Gruppe um Gruppe fort, vereinigend hat sich die Jugend mit dem Alter, der Reiche mit dem Armen, der Gebildete mit dem schlichten Juden wiedergefunden und sieh! „dort lagert Israel gegen den Berg" von Hindernissen als ein einig geeinigtes Jsraelvolk! Und wenn auch der jüdische Nationalismus Politisch nicht berechtigt, weil er mit dem weltumfassenden Gedanken unserer Religion nicht übereinstimmt, so hat er doch die Juden wieder aufleben gemacht, daß so Viele der Nvth ihrer Glaubensbrüder sich erinnern, daß sie ihre Mittel nicht auf unftuchtbarem Boden haßerfüllter Menschen vergeuden, sondern dem bedrängten Glaubensbruder, der überall verschlossene Thüren findet, zugutekommen lassen und solange die Andern uns nicht kennen wollen, wir selbst untereinander uns erkennen, als ein einig Volk von Brüdern uns lieben, schätzen, stützen und erhalten.
Da gilt das schöne Wort unserer Weisen, genau an die vielcitirte Stelle der hl. Schrift sich anschließend: „Bis zum Tage der Offenbarung zogen sie hin und her und lagerten immer bald da bald dort von Zwist und Zwietracht zerrüttet; als sie aber zur Thoraübernahme sich vorbereiteten, da wurden sie wie ein Mann, gleichen Sinnes und Strebens, wie ein Herz". Sehen wir es doch selbst in den kleinsten Kreisen wiederkehren. Erst toben die verschiedenen Kräfte widereinander, Zwist un) Zwietracht sind an der Tagesordnung, da gährt und lodert es die Zwiespältigkeit der Meinungen geräth aneinander, feuer- und flammenspeiend und sprühend, und der außenstehende Zuschauer könnte leicht zur falschen Meinung verleitet werden, das werde kein gutes Ende nehmen; es ist aber nur eine Gährung, die zu Säuberung führt; alte, bewährte Kräfte werden verjüngt, neue Kräfte gewonnen, und wenn nur in diesem Kampfe der Meinungen jeder Einzelne das Beste für die Gesammtheit will, so ist es die im Widerstreite erfolgte Abschleifung der Gegensätze, welche die gefestigtere Einheit der gemeinschaftlichen Thätigkeit herbeiführt. Bis dieses Ziel erreicht erscheint, zeigt sich das Wandern und Lagern, das Auseinandergehen und Zusammen- schließen in fortwährendem zwiespältigen Zustande des Kampfes.
Es ist aber nur ein reinigendes, in seiner Folge conser- virendes Mittel zum heiligen Zweck, und sobald der Moment herantritt das Höchste — bei Israel, die Thora — zu wahren, der Religion eine Stütze zu werden, der göttlichen Offenbarung mit ihrem großen Pflichtenkreise einen Boden zu schaffen, steht auch Israel da geeinigt und geeint, wie ein Mann, wie ein Herz.
