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Dr. Bloch's Wochenschrift.

Nr. 50

Aber wir Beruhigten uns immer wieder mit dem Hin­weise auf jenehöheren politischen Zwecke", von denen wir freilich nie Genaues erfahren haben und denen wir doch eine fromme Kinderglänbigkeit entgegenbrachten. Nun aber sind uns die Augen aufgegangen, nun erkennen wir, daß wir in dem Kampfe um unser Recht von den Nord ans nichts Anderes zu erwarten haben, als was uns bisher geworden: Verrath.

Das elementare Mitleid hätte Nordan hindern sollen, sich gegen uns und unser Recht zu erklären, die wir aus­schließlich auf. die Theilnahme und das Mitgefühl des Aus­landes angewiesen sind. Er hatte überdies ein schweres Unrecht gut zu machen, welches seine Parteileitung gegen uns rumänische Juden verübt und verschuldet hatte. Ich sageUnrecht", es war ja ein Unheil, eine nationale Katastrophe, deren Folgen wir noch Jahrzehnte hindurch werden tragen müssen. Die zionistische Parteileitung protestirt mit einem ungeheuren Wortschwall gegen die Anklage, gegen dieVerdächtigung", daß die wahnwitzige Massenemigration des letzten Jahres, welche mit ihren tragischen Begleiterscheinungen zu einer nationalen Katastrophe entartete, ihr ureigenstes Werk gewesen wäre. Sie hat diese Massenauswanderung nichtveranlaßt", nichtangeregt" undpropagirt", wohl aber herbeigeführt und verschuldet.

Als die Propaganda eingeleitet wurde für die Acti en der jüdischen Colonialbank, da hielt man Reden, öffentlich und in privaten Zirkeln, welche die bevorstehende Etablirung des Judenstaates hoffnungsfreudig ankündigten, man erging sich in geheimnisvollen Andeutungen über die angeblich gesicherten Sympathien des deutschen Kaisers, und Wilhelm n. ist nicht nur romantisch beanlagt, sondern auch ein gar mächtiger Herr in Europa. Das Alles berauschte die politisch ungeschulten, vertrauensseligen Massen und brachte sie in das unglückselige Auswanderungsfieber. Man verschleuderte Hab und Gut, um ja nur bei der großen Staatsgründung zuerst zur Stelle zu sein. Mit dem Actien- schein der Jüdischen Colonialbank in der Hand griffen sie zum Wanderstab und verließen die Heimat. Das Weitere kennen Sie ja! Der hat das Unglück heraufbeschworen, Tausende und Tausende jüdischer Existenzen dem Ruin, dem Untergang zugeführt.

Ich selber bin ein Bekenner des Zionismus und möchte mich nicht in weiteren Anklagen gegen die Parteileitung er­gehen. So weit indessen durfte man es nicht treiben, daß mau sich für unsere erbittertsten Feinde, welche das uns im Berliner Vertrage völkerrechtlich verbriefte Recht gewalt- thätig geraubt hoben, zum Kronzeugen erniedrigt.

Gestern wurde in einem größeren Kreise die Angele­genheit besprochen. Man war nicht blos einig in dem vor­stehend ausgeführten Gedanken, sondern auch in der unge- ungetheilten Anerkennung und Würdigung desunermüdlichen Herrn Dr. Bloch und seines Wirkens zu Gunsten unserer Befreiung".

Dankbar gedachten Alle solcher Art Ihrer, geehrter H«rr Redacteur, und Ihres mannhaften und furchtlosen Eintretens, für uns und unsere Interessen. Nicht nur an den erwähnten Vorfall in der Generalversammlung derIsraelitischen Allianz", nicht nur an den Kampf, den Sie in Ihrer Wochenschrift zielbewußt und energisch für uns führten, erinnern wir uns, es ist nns auch unvergessen geblieben, daß Sie an den letzten überlebenden Theilnehmer am Berliner Congresse, Lord Salisbury, appellirten, sich für die Durchführung der Cougreßacte einzusetzen und uns so zu unserem Rechte zu verhelfen, ebenso wie Sie noch als Abgeordneter im Jahre 1895 jenes offene Schreiben an die italienische Deputirterckammer zu unseren Gunsten richteten.

Den Schluß dieses Briefes müssen wir aus preßgesetzlichen Gründen unterdrücken.

Zur Wshlbewegung in Galizien.

Die Wahlbewegung wogt durch alle Schichten der Be­völkerung und bringt alle Gemüther in Wallung. Von der russischen bis zur italienischen Grenze, von den Karpathen bis zum Erzgebirge gibt es kein Volk, keine Partei, fast keinen Verein, wo die bevorstehende Reichsrathswahl nicht eine höhere Temperatur, eine lebhaftere Blutcirculation hervorgerufen hätte. In dem stets uneinigen, in Parteien gespaltenen, deutschen Volke Oesterreichs ringen die verschiedenen politischen Gruppen um Einfluß und Macht. Die Fortschrittlichen und Rückschrittlichen, die Schönerianer und Luegerianer, die Ra­dikalen und Christlich-Socialen, sowie die Socialpolitischen, sie Alle treten kampfbereit in die Arena, ihre Specialinteressen durch Entsendung entsprechender Vertreter in den Reichsrath zu wahren. Wer leider außerhalb der allgemeinen Bewegung klein­laut im Schatten kühler Resignation bleibt, auf die Brosamen vom Tische des Polenclubs geduldig wartet, das ist die jüdische Bevölkerung Galiziens, die doch, vermöge ihrer Dichtigkeit, dort eine respectable Partei und einen nicht zu unterschätzenden Factor bei den Wahlen bilden könnte. Nach allen Erfahrungen, die sie machten und noch täglich machen, nehmen die Juden noch immer Anstand, offen, ehrlich und klar zu bekennen, daß sie sich als ein Volk fühlen, daß sie Sonderinteressen zu vertreten haben, und daß sie, namentlich in Galizien, sich nicht mit jener Zahl und jener Art von Abgeordneten zufrieden geben können, die ihnen das souveräne Centralwahlcomitß zumißt.

Und warum dieser Kleinmuth?

Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß die galizi- schen Juden im Gegentheile nichts mehr riskiren, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Wohl nur Jene machen eine Ausnahme, die zu den galizischen Potentaten auf dem Fuße friedlicher Vasallen stehen und die Ungnade der Badem, Dzieduszycki, Abrahamowicz zu besorgen haben. Den andern, gewöhnlichen Judenmenschen, hat man schon vorweg Alles genommen, was man, ohne offene Räuberei und ohne Conflict mit dem Strafgesetz, nehmen konnte. Der stille, man könnte sagen der verschwiegene Boycott ist gegen die armen Juden faktisch und gründlich durchgeführt: Die meisten Pachtungen sind ihnen genommen, der Handel größtenteils ent­wunden, die Handwerker erhalten keine Aufträge; die jüdischen Aerzte, die jüdischen Advocaten, Lehrer, Apotheker, Künstler werden bei noch so guten Leistungen gemieden und die jüdischen Beamten läßt man auf ihren Posten einfach aussterben, um bei eintretender Vacanz von den Bewerbern ein Taufcertificat zu fordern. Die Pcopination, das Salzmonopol, die Mänthe besorgen sich die Herren meist selber. Was steht nun noch zu verlieren, wenn die Juden sich mündig erklären und in unabhängiger Weise ihre constitutionellen Rechte ausüben würden?

Nach der Bevölkerungszahl der Juden in Galizien sollten sie von Rechtswegen acht Abgeordnete in den Reichsrath ent­senden. Bisher hatten sie blos sechs, von denen ein Industrieller, vier Juristen und ein Apotheker waren. Das ist keine Interessen­vertretung und keine Volksvertretung! Der gesammte, so zahl­reiche jüdische Handelsstand, der Gewerbestand, das Verkehrs­und Geldwesen haben keine Vertretung; auch im Polenclub und im Landtage nicht, welche abermals blos die Domänen der Großgrundbesitzer, der ihnen befreundeten und verschwägerten, gutsituirten Advocaten und Geistlichen sind. Dies ist auch der Grund, daß man in den Vertretungskörpern keine Klage hört, daß keine divergirende Stimme laut wird, daß Alles nach Außen hin so schön glatt und friedlich erscheint, als ob die messianische Zeit in Galizien angebrochen wäre und Wolf und Lamm in Eintracht lagern würden. Dem ist aber lange nicht so! Es leben leider im Lande Hunderttaus ende von Menschen das Leben des Wurmes unter dem Fußtritte, es kämpfen Hundert­tausende von Menschen den allerschwersten Kampf um ein elendes Dasein, das ihnen streitig gemacht, erschwert und ver­sauert wird; es möchten Hunderttausende ihre Leiden, ihr Elend hinausschreien in alle Welt aber wo?! durch wen?! Die polnischen Blätter öffnen ihnen ebenso wenig ihre Spalten wie die deutschen Journale antisemitischer Couleur; die jüdischen Wochenblätter haben einen fast ausschließlich jüdischen Leserkreis, und wenn die liberalen Wiener Zeitungen zuweilen nach langem Zaudern in sehr bedächtiger und restringirter Weise einige Zeilen zu Gunsten der Juden stammeln, werden sie von einem ganzen Rabenchor als Judenblätter verschrieen! So tief verkommen ° und verkümmert ist die Humanität unserer Zeit, so verroht die Jnstincte der Generation, auf die man in Bezug auf Cultur und