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Die Gemeindemiiglieder erhallen das Blatt unentgeltlich. Preis der Einzelnummer 50 Pfg. v Zustellung durch die Post. Fernsprecher: Hansa 27544. Postscheckk.: Frankfurt a. M. 33521 Schriftleitung und Verwaltung: Fahrgasse 146
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8. Jahrgang
Frankfurt a. M., Juli 1930
Nr. 11
Die Schriftleilung übernimmt für den Inhalt des Gemeindeblatts nur die preßgesetzliche Verantwortung. Nachdruck nur mit Erlaubnis gestattet.
Aus dem Inhalt
Das Ganze und die Gruppe (E. Baer).......... 429
An den Strömen von Babel.............. 430
Gottfried Keller und Berthold Auerbach (S. Meiseis) . . 432
Fanny Lewald (A. Galliner).............. 433
Eigenbetriebe oder Aufbauhilfe in den Gemeinden
(I. C. Kahn)................... 434
Der Moritz und Johanna Oppenheimer'sche Kindergarten
(L. Mehler) ................... 435
Nachrufe....................... 438
Amtliche Anzeigen des Gemeindevorstands....... 437
Aus der Gemeindevertretung............. 439
Aus den Gemeinden.................. 449
Anstalten und Vereine, Versammlungskalender..... 451
Bücherschau ..................... 454
Veränderungen im Personenstand........... 455
Persönliche Nachrichten.......,......... 455
Gottesdienstlicher Anzeiger.............. 456
Statistische Uebersicht................. 458
Katalog der Gemeindebibliothek............ 459
Soeben erschienen:
Franz Rosenzweig
Eine Gedenkschrift
72 Seiten, mit 3 Bildnissen
= Preis RM. 3.— =
Zu beziehen durch das Gemeindebüro, Fahrgasse 146, (Postscheckkonto 20767 Frankfurt a. M., Vorstand der Israelitischen Gemeinde) und durch den Buchhandel.
Das Ganze und die Gruppe
Eine soziologische Betrachtung. Von Erwin Baer Das Prinzip des Liberalismus bedeutet die Befreiung des Einzelnen aus den Bindungen der Gruppen, denen er angehört. Alle Beschränkungen des Rechtes, der Berufswahl, der Freizügigkeit, des gesellschaftliehen Ansehens, die der Zugehörigkeit zu einer sozialen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gruppe halber erfolgen, will der Liberalismus aufheben. Dem Liberalismus verdankten die westeuropäischen Juden die Erlösung aus den .körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Einengungen des Ghettolebens — kein Wunder also, wenn sie, die die Bedeutung der Emanzipation als erstrangig für ihr persönliches Schicksal empfanden, dem politischen Liberalismus in ihrer Weltanschauung einen ersten Platz anwiesen. So fand man sie besonders häufig im Lager des radikalen Liberalismus, der nicht nur die sich auf Gruppenverschiedenheiten berufenden Freiheitsbeschränkungen bekämpfte, sondern Gruppen Verschiedenheiten überhaupt leugnete und damit die Existenzberechtigung der Gruppen überhaupt bestritt. Dieser radikale Liberalismus erkannte keine gesellschaftlichen Unterscheidungen an, die sich zwischen den Einzelbürger und die Nation, ja zwischen den Einzelmenschen und die Menschheit schoben.
Die Realität war stärker als dieses Wunschbild. Nach wie vor leben innerhalb der Menschheit und der Nationen die Menschen in Gruppierungen. Sie können nicht leugnen, dass die Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis, einer politischen Anschauung, einem Beruf, einem Wohnort, einer Generation nicht allein einen persönlichen Zustand des Denkens und Lebens bedeutet, sondern zugleich das Lingeschlos- sensein in eine Menschengruppe, die in bestimmten Grundzügen ebenso denkt und lebt. War man zuvor geneigt, alle diese Gruppenbildungen vollkommen zu übersehen, alle Schicksalsbegebenheiten als persönliche zu werten, so ist man heute umgekehrt allzu bereit, den einzelnen nur noch als Bestandteil seiner Gruppe zu sehen, alle Schicksalsbegebenheiten als gruppenbedingte zu werten. In der persönlichen Bewertung von Alltagserlebnissen eines jeden einzelnen ist die eine oder die andere Einstellung ebenso erkennbar wie in der Literatur, und vielleicht wird der Gegensatz nirgends deutlicher, als in der Gegenüberstellung der Schilderungen der Schicksale jüdischer Familien, wie sie aus der Blütezeit des Liberalismus in Hensels: „D i e Familie Mendels- s o h n" 1 ), aus der heutigen Zeit in Lewisohns: „D as Erbe im Blut" 2 ) vorliegen.
Die Mendelssohns sahen jede menschliche Entwicklung allein als individuelle Aufgabe. Lewisohn, enttäuscht davon, wie häufig eine freie menschliche Entwicklung durch die Funktionen des Gruppengeistes in Konflikt gerät, sieht jede menschliche Aufgabe kollektivistisch. Gab es in der Welt der jüngeren Mendelssohns gar keine jüdischen Bindungen und gar keinen Antisemitismus (wer hat nicht in seiner Bekanntschaft unter getauften und ungetauften Juden solche „Mendelssohns"?), so gibt es in der Welt Lewisohns mir noch jüdische Bindungen, nur noch Antisemitismus (wer hat nicht unter seinen Bekannten solche „Lewisohns"?).
Und doch unterliegt diese wie jene Betrachtungsweise einem soziologischen Irrtum, einem Irrtum, dem in genau
*) He n sei, Sebastian: Die Familie Mendelssohn 172') bis 1847. Nach Briefen und Tagebüchern. Leipzig, Hesse & Becker Verlag.
-) Lewisohn, Ludwig: Das Erbe im Blut. Deutsch v. Gustav Meyrink, Paul List Verlag. Leipzig.