FRANKFURTER ISRAELITISCHES

GEMEINDEBLATT

Amtliches Organ der Israelitischen Gemeinde

Das Gemeindeblatt erscheint monatl. u. wird den Gemeindemitgl. unentgeltl. zugestellt. Preis der Einzelnummer 40 Pfg. Jahresbezug RM. 6.. Sehriftleitung: Fahrgasse 146; Fernspredier: Sammel-Nummer H. 27544. Postscheckkonto: Frankfurt am Main Nr. 33521. Anzeigenverwaltung: M. Isaac & Co., Ravensteinstraße 11, I. Fernsprecher 44868 und 44888. Anzeigen nach Tarif. Anzeigenschluß für die nächste Nummer: 23. Februar. Die Schriftleitung übernimmt für den Inhalt des Gemei ndeblattes nur die preßgesetzliche Verantwortung. Nachdruck nur mit

Erlaubnii der Schriftleitung gestattet.

12. Jahrgang Frankfurt a. M., Februar 1934 Nr. 6

Zurückhaltung

Von Leo Baeck

Wenn den Menschen ein Schicksal trifft, so bleibt ihm eines, "wodurch er dem Schicksal begegnen kann: die Haltung. Alle Haltung kommt aus einem Seelischen hervor, und nichts hat daher weniger mit ihr gemein als das, was bisweilen sich ihren Namen beilegt, jenes Aeußerliche, Künstliche, das durch eine hergestellte Gemessenheit doch nur eine innere Schwäche zu verbergen sucht. Wahre Haltung ist immer Offenbarung eines seelischen Besitzes, sie ist der Ausdruck der inneren Festig­keit und Würde. Kaum etwas widersprach ihr darum mehr als jenes, einst so häufige, sogenannte gesellschaftliche Stre­ben, das den Platz im Kreise der Menschen und oft auch die Meinung und die Richtung immer nur von anderen empfing. Seiner selbst durch ein Sittliches gewiß sein, sich selbst eine Antwort geben können, die Antwort der Seele, das allein führt zur Haltung.

Der Anfang aller Haltung ist darum die Zurückhaltung, diese Fähigkeit, bei sich und in sich zu bleiben, sich zu hören und sich zu sehen. Der haltungslose Mensch ist der, dem es ein Wert seines Lebens ist, von anderen gesehen und gehört zu werden, dem das Geltungsbedürfnis die seelischen Bedürf­nisse und schließlich die seelischen Kräfte verdrängt hat. Von

dem englischen König Eduard VII. wird erzählt, daß er den Begriff des Gentleman und der Gentleman ist der Mensch von Haltung dahin bestimmt habe, dieser sei der Mensch, der von einem Ende der Stadt bis zum anderen gehen könne, ohne bemerkt zu werden. Und was vom Gentleman gesagt ist, gilt ebenso und vielleicht noch mehr von der Lady. Nicht be­merkt werden, das bedeutet nicht, sich verstecken, sondern: die gebotene Zurückhaltung, diese wahre Schlichtheit und Echtheit, bewahren. Wenn, um ein Beispiel anzuführen, jüdische Männer und Frauen meinen, ihre Stunden der Ausspannung und Erholung so haben zu sollen, daß sie auffallen müssen, oder dort, wo sie dann still oder laut hinausgewiesen werden, dann haben sie damit dargetan, daß sie jedenfalls zu denen nicht ge­hören, die der englische König als Gentlemen, als Ladies be­zeichnete.

Vielleicht kann heute durch die Zurückhaltung noch ein Besonderes gegeben werden. Vielleicht entdecken, wenn sie geübt wird, so manche ihr Heim, entdecken Mann und Frau einander und ihre Kinder und einen Kreis von Freunden und entdecken, daß sie, die so lange Menschen der Meinung und Mode waren, Menschen von Haltung zu sein imstande sind.

(C. V.-Zeitung Nr. 3.)

Purim, das Fest des zwiefachen Loses

Von Gemeinderabbiner Dr. Georg Salzberger

In dem Kommentar, den der Talmud zum Esterbuch gibt, findet sich eine Bemerkung, die zunächst überrascht. Zu der Stelle, wo es heißt, der König Ahasveros habe seinen Siegelring vom Finger gezogen und ihn seinem Günstling Haman über­geben, damit dieser den Erlaß über die Niedermetzelung sämt­licher Juden Persiens mit dem königlichen Siegel versehe, be­merkt Rabbi Abba bar Kahana, ein bedeutender Agadist des 3. Jahrhunderts unserer gewöhnlichen Zeitrechnung:Das Ab­ziehen des Siegelringes wirkte mehr als die 48 Propheten und 7 Prophetinnen, die Israel predigten, sie alle vermochten Israel nicht zum Guten zu bekehren, aber das Abziehen des Siegelringes bekehrte sie zum Guten" (Megilla 14a). Der Ge­lehrte denkt bei diesen Worten offenbar an die Fortsetzung der Erzählung: wie nämlich überall, wohin der Erlaß des Königs gelangte, große Trauer bei den Juden herrschte, Fasten, Weinen und Wehklagen, und wie die meisten ein härenes Gewand und Asche sich unterbreiteten. In diesen Zeichen der Trauer und der Buße sieht er den Ausdruck einer inneren Wandlung, einer sittlichen Läuterung und einer religiösen Umkehr. Sie setzt voraus, daß (was aus der Ester-Erzählung nicht ohne weiteres hervorgeht) die Juden auf falschem Wege gewesen waren. Nach allem, was wir aus ihrer früheren Geschichte wissen, liegt die

Annahme nahe, daß sie allzu sehr einem sorglosen Leben sich hingegeben, allzu willig sich den Sitten und Unsitten ihrer heid­nischen Umwelt angepaßt und von ihrem Gott und seinem ver­pflichtenden Bunde sich treulos abgewendet hatten. Erst die drohende Gefahr führte sie zumGuten" zurück.

Es war eine Gefahr nicht nur für ihr Gut und Geld, sondern für Leib und Leben. Alle Juden des weiten Perserreiches, das von Indien bis Aethiopien"127 Provinzen" umfaßte, sollten so war es in unwiderruflichem, königlichem Gesetz ihnen verbrieft und versiegeltan einem Tage, am 13. Tage des 12. Monats vertilgt, getötet und umgebracht werden, Junge und Alte, Kinder und Greise, und ihre Habe sollte der Plünderung anheimfallen". Ein erster ungeheurer Pogrom stand so über ihrem Haupte; wir fühlen ihre Angst und ihr Entsetzen es war, persönlich betrachtet, das furchtbarste Schicksal, das sie treffen konnte. Aber auf das Ganze der Geschichte dieses Volkes gesehen, stellt sich dieser Vorgang uns doch anders dar. Märtyrer sein, heißt Zeugnis ablegen für den Sieg der Ohnmacht über die Macht, des Rechtes über das Unrecht, der Wahrheit über die Lüge, und wo immer auf Erden Blutzeugen fielen als Opfer haßerfüllten Wahns, da warddas Gute" nur noch fester gegründet, und an der Kraft, die das irdische Leben für ein Ewiges in die