UNSER NATIONALISMUS

Zum zweiten Jahrgang

Der Jude" will den ewigen Gehalt des Judentums, seinen Sinn und seine Bestimmung an dem problematischen Stoff der Gegenwart, an dem jüdi­schen Menschen dieses Zeitalters und an der Judenfrage dieses Zeitalters zu erproben und zu bewähren versuchen. Damit ist die Geradheit seines Wegs, aber auch die Umspannung seines Blicks gekennzeichnet. Die Richtung seines Ganges und die Wahrheit seines Schauens sind wechselseitig bedingt. Er hatTendenz": die einer Erkenntnis, welche den Sinn endgültig zu sichern unternimmt, indem sie ihn zu tun befiehlt. Er hatObjektivität**: die eines Willens, der zu seinem Dienst keine andre als eine unbefangene Anschauung gebrauchen mag.

Die Geradheit des Wegs. ;^Warum haben wir in einer Zeit, da tausend breite Wege der Idee zur Wahl zu stehen schienen, diesen schmalen erkoren? Weil uns des rednerischen Verkündens von Ideen genug getan scheint und wir daran gehen wollen, einer großen Aufgabe nicht bloß das Wort zu reden, sondern ihr das be­rufene Werkzeug aus Fleisch und Geist zu schmieden. Weil wir vermeinen, es sei an der Zeit, von der Proklamierung des Ideals für den allgemeinen Gebrauch überzugehen zum Versuch seiner Verwirklichung im natürlichen Lebenskreis eines jeden, der im Ernst leben und vor dem Ernst bestehen will im natürlichen Lebenskreis: Haus, Gemeinde, Volk. Und weil Volk uns die Einheit aus Blut und Schicksal bedeutet, in die wir gestellt sind und der wir uns, deren Größe und Ge­heimnis nicht allein, deren Wirrnis und Widerspruche auch wir uns tätig gewachsen erzeigen müssen, wenn wir im Ernst leben, vor dem Ernst bestehen wollen.

Das ist Wahrheit des Schauens. Wir haben den ewigen Gehalt unseres Volks­tums nicht bloß zu erkennen, wir haben ihn zu erproben, um des Weges willen. Und darum dürfen wir an der Paradoxie der jüdischen Gegenwart nichts ab­zuschwächen, an ihrem Mangel nichts abzurunden, an ihrer Schuld nichts zu beschönigen suchen. Unser Blick hat das Heilige und das Schändliche mit der gleichen Klarheit zu erfassen, unser Wort beides mit der gleichen Redlichkeit zu melden. Nur wenn wir keine Furcht vor uns selbst mehr haben, haben wir nichts mehr zu fürchten. Und nur wenn wir die wahre Ehrfurcht vor uns selbst wieder haben, wird das Ehrfurchtgebietende wieder wahr sein.

Dies also ist der Weg desJuden": das ganze Judentum sehen und das ganze Judentum wollen. Die Fülle des Widerspruchs erkennen und die Fülle der Versöhnung erstreben.

Ja, es ist ein schmaler Weg karg, entsagungsvoll und rechtmäßig. Auf seine Eingangspforte hat der Finger eines überlegenen Passanten das geläufige WortNationalismus 4 * geschrieben. Wie fremd wir uns auch dem wissen, was eute gemeinhin mit diesem Namen genannt wird, wir wischen ihn nicht weg. enn feurige Zeichen sagen uns, daß sein Sinn sich wandelt, und wir ahnen r *ngs um uns einen noch unkenntlichen Bund vonNationalisten" aller Völker,

Heft i/2.