2

Martin Buber: Unser Nationalismus

denen es wie uns nicht um das Durchsetzen, sondern um das Gestalten ihrer Nationen geht. Daß uns diese Aufgabe schon heute in ihrer Reinheit gewährt ist, daß wir zu ihr gelangten, ohne vorher den blutigen Irrweg gehen zu müssen, daß wir in Wahrheit Wegbahner sein dürfen, das erhöht wohl, es erschwert noch aber auch das uns angewiesene Werk. So schmal auch unser Weg ist, unser Herz darf sich niemals zur Enge gewöhnen, ganz wach und weit muß es allen Wandlungen dieser menschheitbereitenden Zeit mit seinem Schlage folgen. Nie darf uns das Nationale sein Ende in sich selber finden, nie uns die Phrase eine Scheinverbindung zwischen ihm und der Sache der Menschheit vorlügen; ganz real muß die Verbindung sein und solcher Art, daß sie sich nicht in unsern Zielsetzungen allein, daß sie sich auch in der Wahl unserer Mittel und der Aus­bildung unsrer Methoden unentstellt kundgibt. Die neue, die verwirklichende Humanität wird da zuerst das unerschrockene Haupt erheben, wo man sich ihr nicht mit Manifesten und Verheißungen zu eigen gelobt, sondern mitten im Grauen dieses Alltags ihr zu dienen beginnt.

Ich schreibe diese Worte wenige Wochen nach dem Ausbruch der russischen Revolution. Seither haben sich allerlei jüdische Stimmen hören lassen, die auf das Ereignis etwa solchermaßen antworteten:Als Menschen begrüßen wir die neue freiheitliche Ära. Aber wir wissen noch nicht, was wir dazu als Juden sagen sollen. Werden alle Beschränkungen sogleich aufgehoben werden? Wird die losgebundene Leidenschaft der Masse sich nicht in Pogromen entladen?" Und andre, ernste Stimmen setzen ein:Wenn die Emanzipation verkündet wird, werden "ihr die Juden nicht wie einst ihre westlichen Brüder den Stolz und die Kraft ihres Volkstums zum Opfer bringen? Beginnt nicht ein neues, riesenhaftes Exempel für die geschichtliche Erfahrung der , äußeren Freiheit und inneren Knechtschaft'? Dürfen wir uns als Juden freuen?"

Anders redet die Stimme unseres Nationalismus. Wir sondern nicht Menschen- und Judengefühl, menschliche und jüdische Erwiderung voneinander. Wir grüßen die Freiheit, Freiheit des Menschen, Freiheit der Völker, wo immer sie, die von Männern unsrer Vorzeit zuerst ersehnte und geforderte, erscheint, dreifach, wo ein großer Teil, der Kernteil"unsres Volkes sie aufbauen helfen darf, sie, gewiß nicht den höchsten, aber den fundamentalen Wert des mündigen Lebens. Sie ist das Eine, das dieweil alles andre Gut des Geistes in die Ungewißheit wechselnder Auf- und Niedergänge gebannt scheint immer deutlicher die Gewiß­heit eines Wegs, eines Werdens, eines Wachstums erlangt hat.Fortschritt" das vom öffentlichen Geschwätz zur Redensart zugerichtete Wort wird hier wieder rein und jung: die Freiheit schreitet fort, im Schreiten wandelt sich ihr Wuchs und Angesicht, eine entschlossene und gelassene Mannheit strahlt heute von ihrer Stirn, nicht so bezwingend, aber zuverlässiger als einst der genialische Blitz. Wir glauben an sie; wir glauben, daß der sichere Wirklichkeits- und Verwirk­lichungssinn ihrer Reife sich auch am Judentum besser bewähren wird als die glänzenden Abstraktionen ihrer Jugend. Wir glauben aber auch an den Juden, den die Lehre eines Jahrhunderts erzogen hat, im Reich der Wirklichkeit und Verwirklichung, das ist im Reich der lebenden Idee, statt in dem der Worte zu wohnen. Der emanzipierte Jude des Westens verfehlte sein Judentum, weil er sein Menschentum verfehlte; weil er nur die Wortaureole der Freiheit, nicht