Vergessene Kunst 77
Eine nachdenkliche Beobachtung ihrer mannigfach abgestuften Entwicklung würde vielleicht lehrreiche Schlüsse über die hierbei wirkenden und treibenden Kräfte ergeben. Etwa die Beobachtung, wie die einen Motive, insbesondere die äußerlich allegorischen, meist unmittelbar dem. menschlichen Leben entnommenen, z, B. das Motiv der segnenden Hände und der priesterlichen Embleme auf den Grabsteinen, über die rohe naturalistische Hinsetzung kaum hinauszukommen vermögen, wie dagegen die anderen Motive, insbesondere die der Tier-, Pflanzen- und Fabelwelt entnommenen, zum Teil aber auch dingliche Motive, sich bei Wahrung ihres symbolischen Charakters zu eigenartig schönen ornamentalen Gebilden entwickeln, z. B. das Motiv der Sabbatlichter auf den Grabsteinen der Frauen, die stilisierten Früchte und Tiere.
Das zweite Element der Kunstüberlieferung ist das formende Prinzip, der innere Stil. Er bekundet sich in der Art, wie der Stoff künstlerisch bewältigt und dem gegebenen Zwecke.dienstbar gemacht wird. Er ist eine Erbschaft der besten Kunstüberlieferungen des Ostens und es zeugt von einer geistigen Verwandtschaft des jüdischen Meisters mit seinen östlichen Lehrern, wenn er ihn die ganze lange Zeit, wo er unter fremdem, vielfach wechselndem und reichlich anregendem Einfluß stand, nicht eingebüßt, sondern treu bewahrt hat.
In seinem Wesen besteht dieser innere Stil der jüdischen Kleinkunst, wie mehrmals ausgeführt wurde, darin, daß erstens der zu gestaltende Stoff dem Zweck der Gestaltung entsprach, daß er zweitens das und nur das hergab, was in ihm an Gestaltungsmöglichkeiten enthalten war und so seine Natur offenbarte, daß drittens der meist bescheidene Zweck des Gestaltens vollkommen erreicht und nichts darüber angestrebt wurde.
So war diese angewandte Kunst im eigensten Sinn organisch. Der Stoff entsprach dem Zweck, dem Stoff und Zweck entsprach die Form, die Form drückte endlich auch den Sinn des Geformten aus. Im Sinn äußert sich ihre Kraft, nicht in dem nur, was ausschließlich das Auge erfreut oder durch kunstfremde Momente ergötzt. Das Sinnbild und das Zeichen beherrschen stark diese Kunst, weil mehr Gefühlsausdruck als reine Gestaltungsfreude sie geboren. Und so geht sie auch sonst nicht so sehr auf die Darstellung des reinen Scheins aus, als auf die von dessen Sinn aus. Denn der Jude blieb auch in den bildenden, also kontemplativen Künsten, in dem bescheidenen Maße, in dem ihm vergönnt wurde, sie zu üben, seiner Natur entsprechend ein Ekstatiker.*)
8.
Die Geschichte der jüdischen Kleinkunst, deren Anfänge weit in die palästinensische Zeit hineinreichen dürften, muß erst geschaffen werden. Ein mühevolles Werk, zu dem nicht einmal die Quellen aufgedeckt sind, ein um so mühevolleres, als man den schwer auffindbaren Spuren in allen Ländern der alten Welt nachgehen muß. Überall in Asien, Afrika und Europa brachten es die Juden oft zu einer kurzlebigen Sonderkultur, standen hierbei unter jeweilig anderem Einfluß, verschoben sich dann weiter, wurden fernab versprengt, verpflanzten und vermengten die Einflüsse.
*) Zum Unterschied von Kontemplation und Ekstase in der Kunstschöpfung vergleiche dl ^Abhandlung des Verfassers: Kontemplative und ekstatische Kunst. (Verlag von Gustav