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Albrecht Hellmann:
sönlichen Anlagen auch die Entwicklung und Vervollkommnung des nationalen Wesens im Gefolge habe, ist unrichtig. Der Einzelne ist nicht ein Summand, mit dessen Vergrößerung sich auch die Summe, die das Volk bedeutet, vergrößert. Wenn überhaupt eine quantitative Betrachtungsweise hier am Platze ist, ist die Nation das Integral aller ihrer Glieder, der vergangenen, gegenwärtigen und künftigen. Darüber hinaus aber noch eine eigene Persönlichkeit höherer Ordnung und ein vollkommen selbständiges Subjekt eigenen Willens, der politisch inkommensurabel ist und keineswegs durch die Rousseausche „volonte generale" zureichend repräsentiert wird. So bedarf das Volk besonderer, von der durch den Einzelnen für sich aufgewendeten Mühe verschiedener Arbeit, um den ihm innewohnenden Drang nach Totalität zu erfüllen. Das Wirken im Dienste des Volkes ist nicht mit der Arbeit an sich selbst identisch, sondern hier klafft ein nie aufzuhebender Widerspruch. Betrachtet man dieses Problem nicht von dem Gesichtspunkte des dauernden Kompromisses, wie er durch die Praxis des Lebens uns immer aufs neue dargeboten wird, sondern sieht man die Forderung nach Vollendung der eigenen menschlichen und der volklichen Totalität in idealer Reinheit, dann wird es sofort klar, daß diese beiden Forderungen einander ausschließen, weil eben zwei Totalitäten nicht nebeneinander erfüllt werden können; ist es uns doch sogar versagt, auch nur eine zu gewinnen, weil Totalität wesentlich ein Attribut des Göttlichen und dem endlichen, begrenzten und vergänglichen Menschen nicht gegeben, nur als unerreichbares, aber doch zu innerst als notwendig empfundenes Ziel aufgegeben ist. Wie das heraklitische Wort, man könne nicht zweimal in denselben Fluß steigen, die zeitliche Grenze der menschlichen Existenz bezeichnet, so das Sprichwort, man könne nicht zwei Herren dienen, in seiner reinsten Bedeutung erfaßt, ihre räumliche*). Es ziemt uns nicht, diese Tragik durch den Hinweis auf das „praktische Leben" zu verschleiern. Uns Juden vor allem nicht. Das erhabene Wort unserer Urzeit: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir" steht als eine zu schwere und gewaltige Mahnung über unserem Leben und der Geschichte unseres Volkes.
Der gleiche unentrinnbare Widerspruch, der das Verhältnis von Einzel menschen und Volk beherrscht, setzt sich in der Beziehung von Volk und Menschheit fort. Wie dem Individuum, sind auch dem Volke seine endlichen Grenzen gesetzt. Jener Nationalismus, dessen edlere Form sich in dem die höchsten Geister fast jedes Volkes bewegenden Auserwähltheitsgedanken, dem Glauben an die nationale Mission ausdrückt, muß an dem Versuche, das Volk zur Menschheit zu erweitern, scheitern; nicht weil die Menschheit vorläufig eine Fiktion ist, die noch nie realisiert wurde, sondern weil ein Volk nicht die Menschheit aufbauen kann, ebensowenig wie ein Individuum das Volk, und ferner, dies als möglich vorausgesetzt, weil sich noch kein Volk so ganz zu verlieren bereit war, um sich in der Menschheit wiederzufinden, so wie nicht mehr als einige vereinzelte Individuen sich gänzlich aufgaben, damit das noch nie erfüllte Volk, die unbegrenzte Ganzheit dieses Volkes entstehe. Jener politische Internationalismus, der in Wirklichkeit nicht international, sondern supranational ist, weil er die Völker vor lauter „Menschen" nicht sieht oder sie nur als vorläufige unvermeidliche
*) Nicht die Überwindung, aber vielleicht die reinste Austragung dieses ewig tragischen Konfliktes zwischen der Totalität der Idee und der Begrenztheit des menschlichen Lebens ist das Opfer. Andeutungen hierüber in dem Essay „Idee und Organisation", „Der Jude" 1917, Heft 3.