CHRONIK

Je länger der Krieg dauert, um so schwieriger wird die weltpolitische Lage und Haltung des jüdischen Volkes. Zwar bleibt das bestimmende Prinzip unserer nationalpolitischen Stellung im Kriege unverändert in seiner schlichten Klarheit und kann durch keine Ausdehnung des Krieges, durch keinerlei Ände­rung der politischen Konstellation in seinem Sinn und Wesen geändert oder gar überwunden werden. Dieses Prinzip heißt Neutralität und ist in seinem entscheidenden Motiv ideell und moralisch bestimmt, in seiner Geltung mithin der Wirkung der politischen Ereignisse und Wandlungen des Krieges entzogen. Unsere Neutralität war und ist in ihrem letzten Grunde nicht politisch moti­viert; etwa weil sie die klügere, die erfolgversprechendere Haltung wäre; sie ist vor allem andern ein Ergebnis unserer nationalen Situation, unserer geistigen Lage und unserer historischen Vergangenheit. Wir haben nichts mit diesem Kriege zu tun; er ist uns in seinen Entstehungsursachen, in seinen Zielen, in seinem Gehalte völlig fremd. Er verläuft ganz und gar außerhalb unserer nationalen Sphäre. Wir sind an ihm beteiligt durch die faktischen Gegeben­heiten unserer gegenwärtigen Daseinsform, sind in seinen Wirbel verstrickt durch tausendfältige Bindungen unserer Wirklichkeit, stehen aber völlig außer­halb seines Bereichs in allem, was sinnvoll, wahrhaft national und wesens­eigentümlich in unserer Existenz ist. Unsere Neutralität wahren, heißt den Sinn, unserer Geschichte reinhalten, heißt die durch unsere Vergangenheit und Zukunft bestimmte nationale Eigenart unseres Volkes wahren, heißt Juden auch in diesem Kriege bleiben. So ist unsere Neutralität wahrhaft absolut; die einzige wirklich unbedingte Neutralität eines Volkes in diesem Kriege,

Aufgabe und Ziel der jüdischen Politik im Kriege war und ist es, diese ideell bedingte Haltung unseres Volkes zur faktischen zu machen; den Konflikt zwischen- den realen Gegebenheiten unserer Situation im Kriege und diesem Postulate unserer Haltung zu überbrücken, den Widerspruch zwischen unserer konkreten Einstellung und dem Verhalten, das uns als Juden vorgeschrieben ist, zu mildern. Dieser Widerspruch, das beherrschende Kennzeichen unserer tragischen Situation in der Diaspora, besteht auch hier. Als Glied der einzelnen Staaten, als An­gehöriger verschiedener Wirtschaftssphären und Kulturkreise, als Individuum mit bestimmten politischen und kulturellen Wünschen und Idealen hat jeder Jude seine Sympathien und Antipathien im Kriege, hat er seine eigene persön­liche Stellungnahme; als Jude kann und darf er nur eine haben: die neutrale. Da wir im Galut faktisch nie nur als Juden leben können, kann auch die jüdisch gebotene Haltung der Neutralität vom einzelnen Juden generell nicht rein und konsequent verwirklicht werden; vielmehr wird sie getrübt und durch­drungen von tausend anderen Strömungen und Stellungnahmen der nichtjüdischen Elemente seines Wesens und Lebens. In dieser inneren anarchischen Wirklich­keit die Neutralität des jüdischen Volksganzen doch zum beherrschenden Cha-? rakteristikum unserer Gesamthaltung im Kriege werden zu lassen, das macht die Aufgabe und den Inbegriff der jüdischen Politik in diesen Jahren aus.

Hefts IC