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Amitai:
Es ist ein eindrucksvolles Syirptom unserer nationalen Stärke und Geschlossenheit, heute, nach vier Kriegsjahren, sagen zu können, daß die jüdische Politik im wesentlichen sich dieser Aufgabe bewußt war. Überblickt man ihre Entwicklung im Kriege, so hat man durchaus das Recht, sie als eine neutrale zu bezeichnen. Die steigende Aufmerksamkeit, die seitens der führenden Faktoren der Weltpolitik ihr im Kriege geschenkt wurde, ist ein deutliches Symptom dieser Neutralität; der Respekt vor dem jüdischen Volke als einem weltpolitischen Faktor, den die Großmächte in diesem Kriege zu empfinden gelernt haben, ist eine Folge dieser Neutralität.
Erst das letzte Jahr hat hier Änderungen tiefgehender Art verursacht und diese neutrale Grundhaltung unseres Volkes in gewisser Hinsicht gefährdet. Bestimmend dafür ist die Politik der beiden kriegführenden Mächtegruppen in der Judenfrage. Seit längerer Zeit wird von beiden versucht, die Entwicklung und Wegerichtung der jüdischen Politik in die Bahn ihrer Interessen zu lenken. Man kann von einem förmlichen Wettkampf zwischen der Entente und den Zentralmächten in den Bemühungen um die Gewinnung der jüdischen Sympathien sprechen, und man muß heute konstatieren, daß in diesem Wettlauf die Entente bisher zweifellos den Vorsprung gewonnen hat.
Es wäre falsch, wollten die Juden oder die maßgebenden politischen Kreise in den Ländern der Zentralmächte an dieser Tatsache achtlos vorbeigehen oder sie gewaltsam nicht sehen wollen. Die Tatsache besteht; sie ist heute in allen neutralen, darüber hinaus in all jenen jüdischen Kreisen, deren politische Haltung und Tätigkeit in erster Reihe durch jüdische Momente bestimmt wird, deutlich wahrzunehmen; und sie ist in ihren Wirkungen so bedeutsam, daß ein jeder, der an jüdischer Politik Interesse hat, sie in ihren Ursachen und Zusammenhängen prüfen und begreifen muß.
Dieser Ursachen gibt es naturgemäß, wie bei allen politischen Erscheinungen, sehr viele; es kann sich hier nur darum handeln, die entscheidenden, letzthin bestimmenden zu erfassen. Die allgemeinste Ursache ist die bekannte Überlegenheit der Entente in allem, was Propaganda und Beeinflussung der öffentlichen Meinung betrifft. Diese Überlegenheit ist bereits so manifest, daß sie nicht «rst aufgezeigt zu werden braucht; auch braucht sie an dieser Stelle nicht in ihren Ursprungsgründen untersucht zu werden. Viele Momente spielen hier mit, die letzthin in den wesenhaftesten Eigenschaften der verschiedenen Völker und Staaten verwurzelt sind. Ganz abgesehen von dem materiellen Gehalt der Politik und Propaganda der beiden Mächtegruppen ist es deren Form, die Art der Vertretung ihrer Sache vor der internationalen Öffentlichkeit, die Geste des Sichgebens und Sichrepräsentierens, die die Überlegenheit der Entente in dieser Hinsicht begründet. Es hängt damit zusammen, daß die Entente sehr viel früher und sehr viel intensiver als die Regierungen der Zentralmächte die ungeheure Bedeutung der internationalen öffentlichen Meinung erfaßt hat; sie hat ein unvergleichlich viel feineres Verständnis für das Atmosphärische in der Politik, für den Wert des Imponderablen im internationalen Völkerleben; während man den Eindruck hat, als ob die Politiker der Zentralmächte, vor allem Deutschlands, Wirkungen und Erscheinungen erst wahrhaft sehen, wenn sie konkret wahrnehmbar werden. Es ist letzten Endes eine feinere Ausbildung des Organs für unsichtbare, atmosphärische politische Prozesse, was die Entente voraus hat.
Hinsichtlich der jüdischen Politik ist diese Überlegenheit ganz besonders be-