DIE FORDERUNGEN DES JÜDISCHEN VOLKES AN DIE FRIEDENSKONFERENZ

In den Tagen, in denen der Krieg für die Welt zu Ende geht, beginnt er für das jüdische Volk aufs neue, kehrt das Grauen, die Verwüstung und Flucht seines Anfangs zurück, wiederum die Furchtbarkeit des unserem Volke ver­hängten magischen Fatums, die Ersten und die Letzten zu sein, bezeugend, be­stätigt sich selbst dem Blinden nicht mehr übersehbar neuerlich die Einheit des jüdischen Schicksals in allen Ländern und zu allen Zeiten. Ist es das Gefühl für die Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Vorgänge, die tiefe Überzeugung von der inneren Notwendigkeit in dem Geschick unserer zweitausendjährigen Zerstreuung und leidvollen Wanderschaft, die uns in den jetzt ausbrechenden düsteren und gewaltigen Feuerbränden den letzten Widerschein, das letzte und schreckenvollste Aufflammen des ungeheuren Brandes sehen läßt, der einst Jerusalem verzehrte, dem blutigsten Pogrom unserer Geschichte leuchtete und seither immmer wieder losbrach, bis zu den Tagen des Lemberger Massenmordes? Es ist schwer, noch unter dem unmittelbaren Eindruck banger, das Schlimmste befürchten lassender Tage, das Geheul einer bestialisierten Menge noch in den Ohren, erschüttert von dem nie mehr aus der Erinnerung auszulöschenden Schauspiel des tiefsten menschlichen Zusammenbruchs und des höchsten Triumphs seelenloser Tierheit, müde und überwach vom ruhelosen Arbeitsfieber, die großen geschichtlichen Linien nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren, die bis zu diesen Tagen geführt haben und die wir nun als die Richtlinien unserer neuen Zukunft und unserer Wiedergeburt selbst bestimmen sollen.

Selbstbestimmung und Selbstgestaltung, Herr des eigenen Schicksals und nicht mehr Untertan fremden Willens kann eine der geschichtslosen oder nach kurzer Hörigkeit jetzt zu neuer staatlicher Selbständigkeit erwachenden Nationen begreifen, was dieses Recht uns bedeutet? Die stärkste Seele vermag dieses ungeheuerliche Schicksal nicht auszudenken: jahrtausendelang, jedes Jahr, jeden Tag, jede Stunde von fremder Willkür, fremder Macht und bestenfalls dem Zu­fall abzuhängen, immer im Passiv des ewigen Zeitworts ahasverischen Gehetzt­seins konjugiert, gebeugt zu werden, bis zuletzt dieses Schicksal nicht selbst handelnd bewegen zu dürfen, sondern der damit untrennbar und unfaßbar ver­knüpften Pogrombewegung ohnmächtig duldend unterliegen zu müssen! Schwe­reres war noch keinem Volke dieser Erde auferlegt.

Das Kriegsende, das uns neue Judenverfolgungen, neue Flüchtlinge und neuen unsäglichen Jammer schauen läßt, bestätigt, was der Kriegsbeginn für das jüdische Volk in seiner überwiegenden Mehrzahl erwiesen hat: die zionistische Lösung ist nicht bloß die Lösung der persönlichen, der kulturellen und geistigen, sondern auch der politischen und zum Teil der ökonomischen Judenfrage. Das Recht auf Palästina kann uns heute nicht nur darum nicht bestritten werden, weil wir

Heft io. 32