ALBRECHT HELLMANN / DIE GESCHICHTE DER ÖSTERREICHISCHJÜDISCHEN KONGRESSBEWEGUNG
Zur Frage der nationalen folinderheitsrechte der Juden*)
IV.
Die Gefahren der Minderheitsrechte
Der Nationalitätenkampf im früheren Oesterreich hat, .ohne daß von einer gesetzlich festgelegten nationalen Abgrenzung mit Ausnahme der Kataster in Mähren und der Bukowina**) dort je die Rede gewesen wäre, auf praktisch-politischem Gebiete zu einer Trennung nach nationalen Gesichtspunkten geführt. Die Nationen hatten in den hauptsächlichsten nationalen Interessensphären, besonders in der Sprachen- und Beamtenfrage, einen „nationalen Besitzstand" erreicht, zu behaupten oder noch zu erringen und jede, auch die kleinste nationale Grenzüberschreitung, wurde die Ursache des heftigsten Kampfes, der mit allen parlamentarischen und außerparlamentarischen Mitteln geführt wurde. Wer die Entwicklung der inneren Politik in Oesterreich seit der Revolution von 1848 verfolgt, kann die Beobachtung machen, daß immer neue Gebiete des staatlichen und öffentlichen Lebens in den Bereich des Nationalitätenkampfes gezogen wurden — ein historischer Beweis für die Gültigkeit des im vorangegangenen Abschnitt aufgestellten Gesetzes von der Unmöglichkeit der Abgrenzung der nationalen Abgrenzung. Ohne daß die nationale Autonomie in Oesterreich eingeführt worden wäre, hat' die politische Praxis verschiedene ihrer Konsequenzen verwirklicht. Insbesondere der „nationale Schlüssel", der bei den Beamtenernennungen in Anwendung gebracht wurde, entspricht, mag er nun damals gerecht oder ungerecht gehandhabt worden sein, im Prinzip der Rennerschen Forderung der „verhältnismäßigen Beamtung". Auf diese Gefahr der „Prozentnorm", die die Erlangung der nationalen Autonomie im Rennerschen Sinne für die Juden im Gefolge hätte, hat 1912 Adolf Böhm - in dem früher erwähnten Artikel der Prager „Selbstwehr" nachdrücklich hingewiesen; was Rosenfeld in seinem Buche „Die polnische Judenfrage" gegen Böhms Argumentation anführt, kann übergangen werden. Es fällt völlig ins Leere. Da jedoch, wie wir gesehen haben, bereits vor Gewährung
*) Siehe die Aufsätze in dieser Zeitschrift, IV. Jahrgang, Heft 11, V. Jahrgang, Heft 4,7,11. **) Der Kataster für Galizien, der bei der im Jahre 1914 geplanten Landtagswahlreform eingeführt werden sollte, blieb Entwurf und war — was 'sehr bemerkenswert ist — nicht als nationaler Kataster gedacht, sondern als konfessioneller.
Heft 12. r 45