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Umschau: Völkerpsychologie
russische Geschichtsphilosoph und Völkerpsycholog, ja vielleicht einer der ersten Geschichtsphilosophen und Völkerpsychologen .der europäischen Neuzeit war. Tschaa- dajews Streben ging ausdrücklich dahin, die Eigenarten verschiedener Volksgeister zu erfassen, den Völkern zu ihrer Selbsterkenntnis zu verhelfen, vor Allem aber: „den jedem Volksgeist von der Vorsehung zugewiesenen Platz in der Ge*schichte der Menschheit" und seine Bedeutung für den sittlichen Fortschritt der Menschheit zu erkennen. „Eine der wichtigsten Aufgaben der Geschichte in diesem Sinne," heißt es in Tschaadajews Hauptwerke — den „Philosophischen Briefen" — „würde darin bestehen, im Gedächtnis des Menschen den Völkern, die die Weitbühne verlassen haben, entsprechende Stellen anzuweisen und das Bewußtsein der lebenden mit einem Gefühl für die ihnen vorbestimmten Schicksale zu erfüllen. Ein jedes Volk, das eine, deutliche Vorstellung von den verschiedenen Epochen seiner Vergangenheit besitzt, würde auch sein gegenwärtiges Dasein in seiner ganzen Wahrheit und bis zu einem gewissen Grade auch die ihm bevorstehende Laufbahn erkennen. Auf diese Weise würde bei allen Völkern ein echtes nationales Bewußtsein entstehen, aus einigen grundlegenden Ideen, offenbaren geschichtlichen Wahrheiten und tiefsten Ueberzeugungen bestehend, die mehr oder minder alle Geister beherrschen und dem gleichen Ziele zulenken".*)
Von den „Völkern, die die Weltbühne verlassen haben," befaßt sich nun Tschaadajew in erster Linie mit den Juden und den Griechen, zwischen den beiden Volksgeistern stets Parallelen ziehend. Und da sind die rücksichtslose Konsequenz und der Mut wahrhaft bewundernswert, mit denen er die anerkannten Herrscher im hellenischen Geistesreich, an deren Bedeutung zu rütteln auch heute noch als geistige Majestätsbeleidigung gilt, zugunsten der Träger des jüdischen Geistes entthront.
Die Antithese, in die Tschaadajew Judentum und Griechentum setzt, mag, wie alle völkerpsychologischen Urteile dieser Art, etwas zu schroff sein: man wird ihr aber die Treffsicherheit nicht absprechen können. Diese Antithese kann man so formulieren: hier — das Judentum: Verkörperung von Religion, Moral, Zucht des Körpers und d.es Geistes; da — im Griechentum: absolute Freiheit des Geistes und Losgebundenheit der Phantasie, die in ihrem — natürlich- extremen — Ergebnis doch wieder in den Materialismus zurückführen. Die ausgesprochene Sympathie des vom tiefsten Christentum erfüllten Menschen und Denkers
*) Hier zitiert nach meiner demnächst im Drei Masken Verlage, München, erscheinenden Uebersetzung der Schriften Tschaadajews.
Tschaadajew für das Judentum ist doch höchst bemerkenswert und des Nachdenkens würdig: zu einer breiten geschichts- und religionsphilosophischen Perspektive entfaltet, würde sie zu dem Ergebnis führen, daß das Christentum nicht,, wie üblicherweise angenommen wird, ein überwundenes Judentum darstellt, sondern umgekehrt, — wie es vielen bekehrten europaabgewandten Juden heute bewußt oder unbewußt vorschweben mag: — die Christenwelt von heute stellt nur ein unvollendetes Judentum dar, eine Welt, die der Vollendung im Sinne des Judentums, im Sinne also nicht der subjektiven, Moral, sei es der Einzelindividuen oder der Einzelvölker, sondern der objektiven Ethik dringend bedarf. —
Die SeelenverwandtschaftTschaadajews mit dem Judentum (oder sagen wir hier mit dem biblischen Judentum) in der moralisch-geistigen Einstellung zur Welt geht so weit, daß er, wie die Bibel die Skulptur überhaupt ablehnt, ebenso auf eigenem Wege zur Ablehnung der griechischen Skulptur gelangt. „Die Griechen haben aus der Kunst eine umfassende Idee des Menschengeistes gemacht. Nun, worin besteht diese prachtvolle Schöpfung ihres Genies? Alles Materielle im Menschen wurde idealisiert; die natürliche und gesetzliche Ordnungwurde verkehrt,*) was seinem Ursprung nach auf die niedrigste Stufe des gesetzlichen Lebens gehörte, wurde auf die gleiche Höhe wie die höchsten Gedanken des Menschen erhoben. . . Hieraus folgte eine chaotische Vermischung aller moralischen Elemente. . . Statt der ursprünglichen Poesie der Vernunft und der Wahrheit**) drang eine sinnliche und verlogene Poesie in die Phantasie ein. . Die Kunst der Griechen war die Apotheose der Materie, das ist unbestreitbar. Hat man diese Tatsache nun so aufgefaßt? Nein, durchaus nicht. Man betrachtet die auf uns gekommenen Denkmäler dieser Kunst, ohne ihre Bedeutung zu verstehen; man ergötzt sich am Anblick der wundervollen Eingebungen eines Genies, ohne die unlauteren Gefühle, die dadurch im Herzen, und die falschen Gedanken, die im Geiste entstehen, auch nur zu ahnen; es ist eine Anbetung, Rausch und Verzauberung, in denen das moralische Wesen rettungslos untergeht. . . Alle Schönheit, alle Vollkommenheit dieser Gestalten rührt ausschließlich von der gänzlichen Stumpfheit her, die sie ausdrücken: würde auch nur ein Abglanz des Geistes auf ihren Zügen erscheinen, so würde das uns bezaubernde Ideal sofort verschwinden."
Und nun nimmt er eine Entthronung der griechischen Geistesträger und eine Inthronisierung der jüdischen vor, die sogar uns Juden zu weit geht, die aber in ihrer Radi-
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