UMSCHAU
ZIONISMUS UND NATIONALE BEWEGUNG
Geschichte des Zionismus
Wissen wir heute noch, was es hieß, als die Emanzipation ausgereift war, als ein Abschnitt galoppierender Entwicklung zum Stillstand zu kommen [begann, damals, angesogen mit den Ideen des Zeitalters der Verflachung, weltenfern von der abgerissenen Kontinuität früheren jüdischen Lebens, durchzubrechen, gewißermaßen mit dem Ellenbogen stoßend, jeden Schritt mühsam erkämpfend, sich den Weg zu bahnen zu einer neuen Einsicht und zu einem neuen Willen? Hier flössen Ströme aus verschiedensten Quellen, versiegte Brunnen brachen auf, unmerklich Vorbereitetes kam zutage, Zusammenhänge wurden offenbar. Die Einsicht war die Erkenntnis des jüdischen Volkstums, der Tatsache blutmäßiger, schicksalhafter, durch keine Doktrin zu beseitigender, zukunftweisender Zusammengehörigkeit. Der Wille war eine Absage an das Alte, eine Setzung neuer Werte, eine Hinwendung zu neuem Leben, Bejahung hinreißender Utopie — und nun der langsame Beginn, sich zu ihr durch alle Anhäufungen von Schlamm und Staub durchzuschaufeln, trotz stets neu gefühlter Fesselung den Aufflug zu versuchen. Nun wurde Bewegung. Das war Zionismus.
Der Erbe übernimmt Zionismus als etwas Fertiges. Man bekommt heute die Formel, ob vor oder nach Balfours Deklaration, fertig geliefert und weiß um ihr Anerkanntsein. Jüdischer Nationalismus ist sogar schon salon- und pressefähig, der Abonnent weiß sozusagen Bescheid, und der Anhänger findet es langweilig; es gibt auch solche, die sich an das Wort „Nationalismus" halten und, obwohl gewissermaßen jüdisch-völkisch, doch ablehnen. Die junge Generation im Zionismus selbst fühlt oft nicht seine Problematik; man weiß sich erhaben über die primitiven Diskussionsfragen der Vorgänger, weiß aber auch nichts von ihren Seelenkämpfen, von der schöpferischen Erschütterung. Viel Müdigkeit ist das Ergebnis. (Es gibt freilich noch den anderen Typus, der aus der Selbstverständlichkeit der Idee die andere Konsequenz zieht: hingeht und verwirklicht — nicht von diesen handelnden Jungen war hier die Rede.)
Gegen Erstarrung ist nicht nur der Blick auf das Ziel, die Spannung des Verwirklichungsgebotes zu beschwören, sondern auch
der Blick nach rückwärts, zur Tiefe des Ur - Sprungs, der Blick in die Historie. Geschichte kann nicht nur über Gewesenes, Abgeschlossenes geschrieben werden, sie ist auch Rückschau und Besinnung. Sammlung in zweifachem Sinn: Sammlung des Bewußtseins und Sammlung des langsam der Erinnerung entgleitenden Stoffes. Es gab bisher keine Geschichte des Zionismus. Der schnelle Ablauf der drei oder vier Jahrzehnte gab keine Muße zur Geschichtsschreibung. Allmählich häufte sich der Stoff; viele der Mitlebenden wußten zu erzählen, aber diese Einzelberichte konnten kein Gesamtbild geben, das Werden des Zionismus wurde allmählich nur noch dem immer mehr zusammenschrumpfenden Kreis der Mitlebenden übersehbar. Verschiedene Ansätze, Geschichte des Zionismus zu schreiben, blieben unzulänglich; Soko- lows „History of Zionism", die einen konkreten politischen Zweck verfolgte, ist wohl überhaupt hier nicht heranzuziehen. Vorarbeit zu leisten, das Material zu sammeln und einen Einblick in die Zusammenhänge zu geben, mag die Absicht Adolf Böhms gewesen sein, als er daran ging, seine Vorlesungen über Wesen und Geschichte der zionistischen Bewegung, zu einem Buche zu verarbeiten*). Man merkt an manchen Stellen noch diesen Ursprung des Buches, Tatsachen als Rohmaterial zusammenzusuchen. Aber das Werk ist weit mehr geworden. Es wurde eine Darstellung der zionistischen Bewegung, welche wirklich deren Problematik im ganzen Umfang aufrollt, eine geistige Tat, die dem spröden und unbehauenen Stoff zum ersten Mal Gestalt gibt. Wahre Geschichtsschreibung ist -immer künstlerisch, Darstellung eines Schicksals, des Schicksals einer Kollektivpersönlichkeit, Ausfluß einer bestimmt gearteten Subjektivität. Wir meinen nicht jene „Subjektivität**, für die sich Böhm im Vorwort entschuldigen zu müssen glaubt, aber wir meinen die Spuren des persönlichen Erlebnisses, sogar im gesteigerten Sinn des Erlebnisses einer Generation, als deren scharf umrissenen Repräsentanten im Zionismus wir Adolf Böhm, den Politiker und Schriftsteller, seit langem kennen. Sie
*) Adolf Böhm, Die zionistische Bewegung. Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung.
I. Teil: Bis zum Tode Theodor Herzls.
II. Teil: Bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Mit einem Anhang: Kurze Uebersicht der Entwicklung vom Ausbruch des Weltkrieges bis zur Gegenwart. Berlin 1921, Weltverlag.