Umschau: Geschichte des Zionismus
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ist von der Assimilation hergekommen, ganz in der Welt der Aufklärung, des rationalistischen Liberalismus mit seinem weltbürgerlich weiten, europäisch-modernen Bildungsideal aufgewachsen und ganz in ihm verwurzelt; in ihre Jugend fallen die Stürme um Nietzsche — Ibsen — Marx, mit stärkster geistiger Leidenschaft durchlebt — und plötzlich kam die Wandlung, das Ergriffenwerden von der zionistischen Idee, die ent- deckung der eigenen gesellschaftlich-schöpferischen Aufgabe. Böhm hat den Zionismus tief erfaßt und sich ihm mit allem Elan hingegeben. Er ist selbst innerhalb kurzer Zeit durch alle Höhen und Höllen des offi-~ ziell-zionistisehen politischen Lebens durchgegangen, mit seiner feinen Sensibilität und seinem geistig-suchenden Trieb, er hat von Stufe zu Stufe tiefer gesehen, die Zusammenhänge erkannt, schrittweise die Denkungs- art (nicht: Denkinhalt) der Assimilation überwunden — manches Beste aus ihr herüberrettend. Und nun, in den Jahren der Reife, vermag er zu überschauen und zu urteilen, wenn auch noch mitten in praktischer Tätigkeit stehend. Kein zünftiger Historiker, doch mit bemerkenswertem historischen und methodischen Ingenium begabt. Die seelenbefreiende Wirkung der Idee, die Katharsis, strömt aus dem Buche — well es des Autors eigenes Schicksal ist, das ihm zugrunde liegt. Dieses Schicksal fühlen zu lassen ist des Autors eigentliches Ziel. Daher kommt es ihm darauf an, die Dynamik, den Rhythmus, die Überwältigende Gewalt der Bewegung, ihr inneres Wachstum, ihre bestimmende Notwendigkeit aufzuzeigen — was vor Böhm in dieser umfassenden Form niemals versucht wurde.
Das Problem der Stoffbehandlung war kein leicht zu lösendes. Der Zionismus, nicht zu verstehen ohne seine geistige und tatsächliche Vorgeschichte, nicht loszulösen auch von der Besonderheit des Zeitalters, ist ein vielseitiges Gebilde. Nicht die äußere Geschichte der Kongresse sind das Schema, an das man sich halten könnte, sondern parallel mit dieser eigentlichen Parteige schichte geht die Kolonisation, der Kampf junger Menschen um die reale Arbeit in Palästina, geht der Prozeß der Innern nationalen Entfaltung mit ihren Aeußerungen und Krisen, geht die Ausstrahlung der Idee der Wiedergeburt im ganzen Judentum. Böhm hat das Problem der Gliederung und Behandlung des Stoffes vielleicht noch nicht endgültig und restlos (ist ja seine Arbeit die erste dieser Art), aber doch glücklich gelöst. Es ist ihm gelungen, auch die oft trockenen und nüchternen Tatsachen interessant zu machen, indem er dem Ganzen den dramatischen Schwung gab. Dies wurde erreicht, indem die innere Problematik gewissermaßen das Leitmotiv des Ganzen bildet; Böhm hatte den guten Gedanken, dabei von charakteristischen Publikationen auszugehen,
die den ideologischen Zustand eines bestimmten Stadiums beleuchten; so z. B. stellt er an den Anfang des zweiten Teiles, der die Geschichte nach Herzls Tod darstellen soll, eine Wiedergabe des Inhalts des heute beinahe vergessenen Sammelbuches „Die Stimme der Wahrheit", das die damaligen Strömungen wiederspiegelt. Er unterbricht immer wieder den Gang der Darstellung, um die Entwicklung der Theorie, die geistig-religiösen Unterströme und ihre Auswirkungen zu zeigen. Es ist unverkennbar, daß diese Abschnitte dem Autor die wichtigsten sind; sie sind auch die originellsten, da gerade diese Phänomene noch niemals so sachlich und verständig im Rahmen der Gesamtentwicklung des Zionismus dargestellt wurden. Hier ist auch immer wieder die Brücke zu den allgemeinen Werten geschlagen, ohne die eine idealistischschöpferische Bewegung nicht möglich ist. Böhm weiß um den menschlichen Sinn des Zionismus; er weiß auch, daß zionistische Verwirklichung ohne menschliche Erschütterung, ohne revolutionäre Kraft, ohne Wiedergeburt der Herzen (dieses Wort, das sein Präger Achad Haam im national-ethischen Sinne verstand, zu allgemeinem Sinne gesteigert) nicht kommen kann. Darum sieht er den schweren, verhängnisvollen Fehler der starren Parteimenschen, die sich in ihrer politischen Dogmatik durch die lebendige, wertende, dabei höchste Forderungen stellende Auffassung der Bewegung bedroht fühlen. „Sie unterschätzen den Wert des geistigen F aktors in der Politik, in einer Bewegung, die revolutionären — d. h. das Gegebene radikal verneinenden und grundsätzlich Neues anstrebenden — Charakter trägt/ Das Gegebene radikal verneinen und grundsätzlich Neues anstreben — dieses Wesentliche des Zionismus ist Böhm trotz jahrelanger Parteiarbeit nicht, verloren gegangen, insofern ist er eine fast singuläre Erscheinung in der zionistischen Partei. Der Fluch der Erstarrung, der Organisationsdogmatik, des Parteipatriotismus mit ihren Traditionen hat ihn nicht getroffen, er ist nicht stehen geblieben, er hat immer wieder die Disziplin an der Idee kontrolliert; und so hat er als Einziger neben einer (nicht hauptberuflichen!) immensen praktischen Arbeit im Dienste des Zionismus sich in die menschlichen und sozialen Grundfragen der Bewegung zu vertiefen vermocht. Das macht seine Darstellung der zionistischen Bewegung so wertvoll, das gibt ihr die pak- kende Wirkung. Der Grundakkord ist die Einleitung über die „Vorbedingungen", das Kapitel über die Assimilation, die er unbefangen in ihren idealistischen Wurzeln zu werten wagt, die Bedeutung der geistigen Berührung des Judentums mit Europas Kultur hoch anschlagend,~darauf verweisend, wie gerade die Ideen der Aufklärung und Humanität der achtzehnten Jahrhundertwende dem jüdischen Geist hinreißend erscheinen mußten