Umschau: Geschichte des Zionismus

323

ist von der Assimilation hergekommen, ganz in der Welt der Aufklärung, des rationa­listischen Liberalismus mit seinem weltbürger­lich weiten, europäisch-modernen Bildungs­ideal aufgewachsen und ganz in ihm ver­wurzelt; in ihre Jugend fallen die Stürme um Nietzsche Ibsen Marx, mit stärk­ster geistiger Leidenschaft durchlebt und plötzlich kam die Wandlung, das Ergriffen­werden von der zionistischen Idee, die ent- deckung der eigenen gesellschaftlich-schöpfe­rischen Aufgabe. Böhm hat den Zionismus tief erfaßt und sich ihm mit allem Elan hingegeben. Er ist selbst innerhalb kurzer Zeit durch alle Höhen und Höllen des offi-~ ziell-zionistisehen politischen Lebens durch­gegangen, mit seiner feinen Sensibilität und seinem geistig-suchenden Trieb, er hat von Stufe zu Stufe tiefer gesehen, die Zusammen­hänge erkannt, schrittweise die Denkungs- art (nicht: Denkinhalt) der Assimilation über­wunden manches Beste aus ihr herüber­rettend. Und nun, in den Jahren der Reife, vermag er zu überschauen und zu urteilen, wenn auch noch mitten in praktischer Tätig­keit stehend. Kein zünftiger Historiker, doch mit bemerkenswertem historischen und metho­dischen Ingenium begabt. Die seelenbe­freiende Wirkung der Idee, die Katharsis, strömt aus dem Buche well es des Au­tors eigenes Schicksal ist, das ihm zugrunde liegt. Dieses Schicksal fühlen zu lassen ist des Autors eigentliches Ziel. Daher kommt es ihm darauf an, die Dynamik, den Rhyth­mus, die Überwältigende Gewalt der Bewe­gung, ihr inneres Wachstum, ihre bestim­mende Notwendigkeit aufzuzeigen was vor Böhm in dieser umfassenden Form nie­mals versucht wurde.

Das Problem der Stoffbehandlung war kein leicht zu lösendes. Der Zionismus, nicht zu verstehen ohne seine geistige und tatsächliche Vorgeschichte, nicht loszulösen auch von der Besonderheit des Zeitalters, ist ein vielseitiges Gebilde. Nicht die äußere Geschichte der Kongresse sind das Schema, an das man sich halten könnte, sondern parallel mit dieser eigentlichen Parteige schichte geht die Kolo­nisation, der Kampf junger Menschen um die reale Arbeit in Palästina, geht der Prozeß der Innern nationalen Entfaltung mit ihren Aeußerungen und Krisen, geht die Ausstrah­lung der Idee der Wiedergeburt im ganzen Judentum. Böhm hat das Problem der Glie­derung und Behandlung des Stoffes vielleicht noch nicht endgültig und restlos (ist ja seine Arbeit die erste dieser Art), aber doch glück­lich gelöst. Es ist ihm gelungen, auch die oft trockenen und nüchternen Tatsachen in­teressant zu machen, indem er dem Ganzen den dramatischen Schwung gab. Dies wurde erreicht, indem die innere Problematik ge­wissermaßen das Leitmotiv des Ganzen bildet; Böhm hatte den guten Gedanken, dabei von charakteristischen Publikationen auszugehen,

die den ideologischen Zustand eines bestimm­ten Stadiums beleuchten; so z. B. stellt er an den Anfang des zweiten Teiles, der die Ge­schichte nach Herzls Tod darstellen soll, eine Wiedergabe des Inhalts des heute beinahe vergessenen SammelbuchesDie Stimme der Wahrheit", das die damaligen Strömungen wiederspiegelt. Er unterbricht immer wieder den Gang der Darstellung, um die Entwick­lung der Theorie, die geistig-religiösen Unter­ströme und ihre Auswirkungen zu zeigen. Es ist unverkennbar, daß diese Abschnitte dem Autor die wichtigsten sind; sie sind auch die originellsten, da gerade diese Phänomene noch niemals so sachlich und verständig im Rahmen der Gesamtentwicklung des Zionis­mus dargestellt wurden. Hier ist auch immer wieder die Brücke zu den allgemeinen Wer­ten geschlagen, ohne die eine idealistisch­schöpferische Bewegung nicht möglich ist. Böhm weiß um den menschlichen Sinn des Zionismus; er weiß auch, daß zionistische Verwirklichung ohne menschliche Erschüt­terung, ohne revolutionäre Kraft, ohne Wieder­geburt der Herzen (dieses Wort, das sein Präger Achad Haam im national-ethischen Sinne verstand, zu allgemeinem Sinne ge­steigert) nicht kommen kann. Darum sieht er den schweren, verhängnisvollen Fehler der starren Parteimenschen, die sich in ihrer po­litischen Dogmatik durch die lebendige, wer­tende, dabei höchste Forderungen stellende Auffassung der Bewegung bedroht fühlen. Sie unterschätzen den Wert des geistigen F aktors in der Politik, in einer Bewegung, die revolutionären d. h. das Gegebene ra­dikal verneinenden und grundsätzlich Neues anstrebenden Charakter trägt/ Das Ge­gebene radikal verneinen und grundsätzlich Neues anstreben dieses Wesentliche des Zionismus ist Böhm trotz jahrelanger Partei­arbeit nicht, verloren gegangen, insofern ist er eine fast singuläre Erscheinung in der zionistischen Partei. Der Fluch der Erstarrung, der Organisationsdogmatik, des Parteipatrio­tismus mit ihren Traditionen hat ihn nicht getroffen, er ist nicht stehen geblieben, er hat immer wieder die Disziplin an der Idee kontrolliert; und so hat er als Einziger neben einer (nicht hauptberuflichen!) immensen praktischen Arbeit im Dienste des Zionismus sich in die menschlichen und sozialen Grund­fragen der Bewegung zu vertiefen vermocht. Das macht seine Darstellung der zionistischen Bewegung so wertvoll, das gibt ihr die pak- kende Wirkung. Der Grundakkord ist die Einleitung über dieVorbedingungen", das Kapitel über die Assimilation, die er unbe­fangen in ihren idealistischen Wurzeln zu werten wagt, die Bedeutung der geistigen Be­rührung des Judentums mit Europas Kultur hoch anschlagend,~darauf verweisend, wie ge­rade die Ideen der Aufklärung und Humani­tät der achtzehnten Jahrhundertwende dem jüdischen Geist hinreißend erscheinen mußten