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Oskar Karb ach;

Umrissen jedes Kind: was hier in Europa aber geschehen soll, ist uns un­klar, dieses politische Gebiet ist nicht bestellt, dieses Problem erscheint uns nicht als ein geschlossenes, den höchsten Preis verheißendes Feld nationaler Betätigung, als eine unumgängliche Voraussetzung und Er­gänzung des Zionismus, sondern wird nur als ein loses Konglomerat iso­lierter Tagesfragen empfunden, die ignoriert werden können, wenn sie nicht gerade eine Abwehrtätigkeit nötig machen.

Vor allem übernehmen wir ungeprüft die Auffassung der Assimilation, daß die jüdische Gruppe, die Gesamtheit der durch prägnante Eigenschaften charakterisierten Individuen jüdischer Abstammung, keinerlei (unbe­wußte und unbeabsichtigte) Einwirkungen auf ihre Umgebung ausübe. Für die Umwelt der Juden mache es demnach nicht den geringsten Unter­schied, ob sie in ihrer Mitte ein zionistisch-nationales oder ein assimi­lationslustiges, ein orthodoxes oder freisinniges, ein konservatives oder radikales, ein reiches oder armes Judentum besitze. Folgerichtig wird das große Problem: Jüdische Renaissance oder Assimilation, das man ein Menschenalter lang in unzähligen Debatten und Diskussionen, Broschüren und Artikeln totgehetzt hat, lediglich als eine intern jüdische Angelegen­heit aufgefaßt.

Man weiß ganz gut die Summe geistiger und wirtschaftlicher Potenzen zu schätzen, die das Judentum in sich vereinigt, man unterläßt nicht, die Umwelt nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, aber man er­kennt nicht, daß sie ein Produkt der in der jüdischen Gemeinschaft herrschen­den Geistesströmungen sind und daß ein erst einmal national gesinntes, wiedergeborenes" Judentum andere soziale Emanationen besitzen muß als ein assimiliertes oder als ein zwar dem Namen nach nationales, aber doch in politischer Hinsicht den Grundgedanken der Assimilation nach wie vor folgendes Judentum.

Gewiß, die Umwelt hat ein Recht, hat aber auch die Pflicht zur aktiven Mit­wirkung am jüdischen Problem der Gegenwart, und nicht diese Anteilnahme sondern gerade im Gegenteil die böswillige und leichtfertige Abstinenz von ihrer sozialen Verpflichtung muß ihr aufs Schuldkonto gesetzt werden 1 ). Was hat unsere Umgebung getan, um die Judenfrage zu lösen, meinetwegen vollständig in ihrem Sinne? Hat sie eine zielbewußte Umschichtungs­politik betrieben? Hat sie nicht im Gegenteil eine demoralisierende syste­matische Politik der einseitigen Favorisierung der jüdischen Nabobs gemacht, die von den zerstörendsten Folgen auf die sozialen Anschauungen innerhalb des Judentums geworden äst? Selbst für alle Verfehlungen, die sich an jüdische Individuen knüpfen, ist unsere Umwelt verantwortlich, denn es sind Vorgänge in der von ihr kontrollierten Gesellschaft: im Besitze der Regierungsgewalt, in imponierender Majorität, von geschlossener, inten­siver Kultur durchdrungen, wird sie vor dem Urteil unbefangener Ge­schichtsforschung als die allein schuldige erscheinen. Hat denn selbst der

x ) Vgl. meinen ArtikelDie Judenpolitik unserer Umgebung", Wiener Morgenzeitung, Nr. 1422, v. 28. Jänner 1923.