Der größere Zionismus

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Antisemitismus jemals Vorschläge hervorgebracht, die mehr als dema­gogisch waren und eine denkbare Verwirklichung seiner Ansichten näher­gerückt hätten?

Die Judenfrage ist der jeweilige Ausdruck des Verhaltens beider Volks­individualitäten, der jüdischen und der nichtjüdischen, zueinander: nur durch den Konsens beider (der einmal im Verlaufe der Geschichte scheinbar und vorübergehend bestanden hat: in der Einigung auf das Assimilationsprinzip in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zur Blütezeit der Assimilation) ist sie lösbar. Die national-jüdische Politik hätte von diesem Grundsatz auszugehen, der mit Bedauern muß es festgestellt werden für sie neu ist und doch ihre wesentliche Grundlage bedeuten müßte.

Die in der Praxis einseitig dominierende Auffassung der jüdisch-natio­nalen Bewegung als eines internen Gärungsprozesses erfaßt so nur einen Teil des ganzen, organisch eine Einheit bildenden Problems und läßt wich­tigste Überlegungen gänzlich unberücksichtigt. Sie sabotiert hochbe­deutsame politische Kapitalien, die in unserer Bewegung unausgenützt ruhen, die von gewaltig fortreißendem Einfluß auch auf die kulturellen Bestrebungen des neuen Judentums sein müßten; sie verrät in ihrer Einstellung, als läge diese Ausschaltung im Gutdünken des Zionismus selbst, einen bedauer­lichen Mangel an geschichtlichem Überblick und politischer Einsicht.

Wer nicht im jüdischen Milieu erwachsen oder durch Regungen des Gemütes zur jüdischen Sache den Rückweg gefunden hat alle Nicht- juden also und jener große Teil der Judenheit, der heute noch die Assimilation zum Lebensprinzip erhebt kann an unsere Bewegung nur die eine Frage stellen, die sich jeder neuen Sache gegenüber er­hebt:Wenn ihr einen Erfolg haben werdet, welche Änderungen im Verhältnis zu uns, der Allgemeinheit, werdet ihr eintreten lassen, welche werden von selbst eintreten?" Wir wissen darauf nichts zu antworten, weil wir selbst über diese Frage nicht nachgedacht haben. Gesetzt, das, wofür wir seit Jahrzehnten mit Leidenschaft kämpfen, lasse sich verwirk­lichen, was geschieht dann mit dem wiedererstandenen Volk? Änderungen im Schul-, Humanitätswesen, in der Organisation der Gemeinden sind nur Mittel zur Renaissance. Welche Rolle weist aber der Jüdischnationale dem bewußten Judentum, welche dem einzelnen bewußten Juden im Europa der Zukunft, welche in der Gegenwart zu? Es wäre eine Kurzsichtigkeit sondergleichen, die Beantwortung dieser Frage etwa auf den Zeitpunkt zu verschieben, in dem unser Programm erst einmal verwirklicht ist: denn dies hieße nichts anderes, als unsere Bewegung ihres hochpolitischen Charakters wissentlich zu entkleiden und an die utopische Möglichkeit ihrer 'Entpolitisierung zu glauben. Daß wir keine Antwort wissen, die wir hinausrufen können, ist recht beschämend für uns. Wir müssen ein­sehen, daß ohne eine Änderung in unserer grundlegenden Einstellung zur Judenfrage von nationaler Politik füglich nicht gesprochen werden darf.

Heute ist die Abwehr die allein wesentliche Form des Verhältnisses <ies Judentums als Gesamtheit zu seiner Umwelt: sie wird uns durch eine