liberales Judentum
Hlonatsfchriff
für die religiösen Interellen des Judentums
herausgegeben von der
Vereinigung für das liberale Judentum in veutkdiiand
unter der Redaktion von vr. caelar Seligmann, Rabbiner in frankfurt a. IN.
No. 3. Jahrgang 3. März 1911.
Zionismus oder Liberalismus -
Von vr. felix Goldmann-Oppeln.
Are „Aurchdringungstheorir."
ebct* das Verhältnis von Nationalismus zur Religion haben jene Zionisten, die auch über die theoretischen Probleme Nachdenken, zwei Theorien aufgestellt. Daß das Nationale nur nebensächliche Begleiterscheinung des Religiösen ohne selbständigen Wert ist, konnten sie nicht zugeben, ohne dem Nationalismus das Grab zu graben. Diese Möglichkeit fällt also fort, und es gibt zunächst die eine Theorie, auf welche wir später zu sprechen kommen, die den Vorzug der Klarheit und Ehrlichkeit besitzt. Sie ordnet die Religion völlig dem Nationalen unter, vertauscht die Rollen, und wie wir das Nationale, so betrachtet sie die Religion als j)rivat- und Nebensache, beider wird dies mit der erforderlichen Deutlichkeit selten ausgesprochen.
Einsichtigere und klügere Geister im Zionismus haben diese Gefahr, diesen Vorwurf der Religionsfeindschaft, schwer empfunden, und haben, um aus der Verlegenheit herauszukommen, eine neue Lehre aufgestellt. Sie behaupten, daß' im Judentum sich R e l i - gion und Nation engdurchdringen, daß sie in einem Wechselverhältnis st ehenundsich der artbeeinflus-
Atheismus oder Religion?
(Fortsetzung.)
sen, daß die eine ohne die andere gar nicht bestehen könne. Der Nationalismus ist nach dieser Lehre nicht nur der Boden, auf dem die Religion einst erwachsen ist, sondern aus dem auch ihre Wurzeln immer wieder die reichsten und schönsten Kräfte ziehen. Entfernt man sie von ihrem Mutterboden, so stirbt sie, und darum liegt es im Interesse der Religion, den nationalen Unterbau zu pslegen, ohne den die Religion eine Zukunft nicht mehr hat. Diese Lehre ist in neuerer Zeit besonders von dem erwähnten Rabbiner Dr. Joseph -Stolp, dem Verfasser des Buches: „Das Judentum a m S ch e i d e w e g e" mit einem großen Aufwand an Gelehrsamkeit und einem noch größeren an Beredsamkeit verfochten worden. Gegen diese These ist nun vieles und erhebliches einzuwenden. Auf der einen Seite ist sie im inneren Wesen des Judentums durch nichts begründet, auf der anderen verrät es eine große historische und philosophische Unerfahrenheit, sie zu verfechten, indem hier völlig verkannt wird, wie in Philosophie und Geschichte sich die geltenden Anschauungen über das Verhältnis von Staat und Kirche seit den Zeiten des Altertums gänzlich geändert haben.