98 Ar. Goldman«: Zionismus oder Liberalismus?
greifen — die letzten Wahlen in Posen, Berlin und München beweisen, wie das Bündnis mit dem Zionismus den Konservativen und Orthodoxen noch jedesmal empfindliche Schlappen einbringt. Wie kostbar ist das Bild, das der Haß gegen den Liberalismus zustande bringt! Die schwärzeste Orthodoxie als Schrittmacher der Religionslosigkeit, der religionslose Zionismus als „Förderer" der Religion!
Me Zukunst.
Der jüdische Rationalismus ist ein Rind unserer Zeit. Er ist nichts, das im Judentum selber liegt, und seine wahren Entstehungsursachen liegen klar vor Augen. Sie gehen in ihrer politisch-praktischen Ausprägung, in dem Wunsche nach einem Zudenstaat in irgend welcher Form auf die Zudennot der Zeit und auf die vielen betrüblichen Erscheinungen zurück, die der Uebergang aus dem Ghetto in das allgemeine Kulturleben mit sich bringen mußte. Ihre idealen Wurzeln liegen jedoch in nichts anderem wie dem allgemeinen Nationalismus der Völker, der unser Jahrhundert vergiftet, dem Streben, auf Rasse und Herkunft einen Wert zu legen, demgegenüber der persönliche Wert des Individuums, seine Begabung und seine Leistungen, völlig zurücktreten. Beide Ursachen können verschwinden, und wenn auch keiner so optimistisch sein wird, an ein Aufhören der östlichen Iudennot in absehbarer Zeit zu glauben, von der anderen ist es sicher, daß sie einst gehen wird, wie sie gekommen ist, und daß auch wieder eine Zeit universalistischer Denkweise die des Nationalismus ablösen wird. Was dann? Was bleibt dann, wenn der Nationalismus die jüdische Religion verdrängt hat und der Höhepunkt des heutigen Rassenwahns und der Nationalüberhebung vorbei ist, wenn die Kulturmenschheit den Nationalismus überwunden hat und wieder universalistisch denkt? Vor diesem
Augenblicke müßte einem jeden ehrlichen Freunde des Judentums bangen! Dann ist ein Geschlecht herangewachsen, das der Religion entfremdet ist und nicht mehr weiß, worin der ewige wert des Judentums besteht, bei dem aber auch der nationale Gedanke nicht mehr einigend und begeisternd wirken kann, weil er mit dem Abflauen des allgemeinen Nationalismus seinen nur zeitigen Wert erwiesen hat. was bleibt, wenn das von der Außenwelt genährte Strohfeuer der nationalen Begeisterung verglommen ist? Was noch bei jeder derartigen Bewegung in der Geschichte der Juden herausgekommen ist. Sollte es dem Nationalismus wirklich gelingen, größere Teile der Zudenheit gegen die Religion zu mobilisieren, so stellt sich, sobald nur wieder ein Lüftchen von Freiheit und Toleranz die Welt durchweht, als Folge in milderen Fällen der Zndifferentis- mus, in den schlimmeren Abfall und Taufe ein. Zn Einzelfällen beobachtet man heute schon, wohin der Weg nach Verlust der nationalen Zdeale führt. Robert Zaffe, der ehemals eifrige Zionist, schreibt heute (ich zitiere im folgenden) „die blutigsten antisemitischen Artikel für die agrarischen Blätter und ist einer der geschätztesten Mitarbeiter des „Kammer"! Dieses Mannes Schicksal läßt mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, welches das Ende eines nationalen Judentums ist, dem die Unterlage, der gehässige, chauvinistische Rassendünkel der Völker, entzogen ist. Dieser Nationalismus des Judentums. reißt in seinen Untergang die ganze Gemeinschaft mit.
wenn man sich aber nun fragt, welche inneren Ursachen das Eindringen des Nationalismus in das Zudentum begünstigten, so merkt man bald, daß man es hier mit einer der beiden großen Reaktionen zu tun hat, welche sich gegen den immer mehr um sich greifenden Zndifferentismus erheben. Die andere Gegenströmung ist der