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für die religiösen Interessen des Judentums

herausgegeben van der

Vereinigung für das liberale Judentum in Deuffdiland

unter der Redaktion van Dr. Caefar Seligmann, Rabbiner in frankfurt a. JTl.

No. 2. Jahrgang 4. februar 1912.

Adolf Wiener, ged. 1. februar 1812, gelt. 25. Ruguft 1895. Van Dr. C. Baeck-Düffeldorf.

cts aufsteigende neunzehnte Jahrhundert | hat in die jüdische Theologie einen 22ei6stum an Talenten hineingeführt. Ihr war die Ungunst der Zeiten zur Gunst ge- wordeii: die staatlichen Lehrämter waren den Juden versperrt, und wer sich den Geistes- wissenschaften zuwenden und doch auch den Boden sicheren Wirkens haben wollte, fand fast einen Weg nur offen, den, der zur Wissenschaft des Judentums und zur rabbi- nischen Tätigkeit hinleitete. Es war kein leichter Weg zu raschem Ziel, aber so mancher Drang nach freier geistiger Arbeit vermochte hier sich äuszuleben. Es ist seitdem gün­stiger geworden, aber vielleicht darum auch ungünstiger.

Es war eine Zeit, die ihre Männer forderte, die kritischste seit jener, in der die Zerstreuung der Juden begann eine Zeit des Auszuges wie damals; nur mit jener Toslösung vom Boden Palästinas läßt fiel} dieser neue Auszug, der aus dem Ghetto, vergleichen. Damals war dem Gebote der Zeiten ein bestimmtes Recht geworden. Man hatte für die neuen Verhältnisse einen wesentlichen Teil der alten Satzungen außer ' Kraft gesetzt: alle die, die bloß für das jüdische Tand" bestimmt sein konnten, sollten außerhalb des Tandes" ihre Geltung ver­

lieren. Jetzt kam es darauf an, daß dem­entsprechend der religionsgesetzliche Begriff desAußerhalb des Ghettos" geschaffen wurde, daß grundsätzlich alles das aufhörte, verpflichtend zu sein, was nur im Ghetto seine Bedeutung und seine Erfüllung hatte finden können. Dies hätte den festen Maß- stab geboten. Aber es fehlte leider die Auto- rität, die ihn stabileren konnte; die Synode, die dies hatte leisten sollen, hat es nicht vermocht.

Daß ein wesentlicher Teil des überkom­menen Religionsgesetzes, wie es sich im Mittelalter ausgestaltet hatte und dann im Schulchan Aruch niedergelegt worden war, nur für das Ghetto gedacht sein und nur dort verwirklicht werden konnte, zeigte sich nach dem ersten Schritt in die neue Zeit. Es ist zum mindesten ein Irrtum, wenn unsere Konservativsten sich heute als die Gesetzes­treuen rühmen. Es gibt in Deutschland nie­manden, der sich so nennen dürfte; nur die, die in den stillen Winkeln Galiziens und Rußlands leben, wären noch berechtigt, so zu heißen. Auch der Strengste unter unseren deutschenGesetzestreuen" ist nur gesetzes­treu mit Auswahl. Bloß das etwas größere oder geringere Maß im galten und Auf­geben unterscheidet hier den von der Rechten