liberales Judentum

Ulonatsfdirift

für die religiösen Interessen des Judentums

herausgegeben oon der

Vereinigung für das liberale Judentum in Deuffdiland

unter der Redaktion van Dr. Caefar Seligmann, Rabbiner in frankfurt a. M.

No. z. Jakrgang 4. Märr >912.

Mr wollen statt der Darren untere Lippen weilien!"

Van Dr. ITlax freudenthal-rtürnberg.

er ursprüngliche gottesdienstliche Ritus im Judentum war wje bei allen Reli­gionen des Altertums der Gpferdienst, welcher zuerst an zahlreichen Rultstätten, zu­letzt ausschließlich im Heiligtum zu Jeru­salem feierlich zur Ausübung kam. Line Be­trachtung des daselbst geübten Opferdienstes zeigt, daß er das heidnische Opferwesen, aus dem er sich abgezweigt, tief unter sich zurückgelassen hatte. Ls waren erhabene Ideen, welche dem Opferkultus im Zions­tempel symbolisch zu Grunde gelegt wurden, und ganz anders wie im Heidentum sollte die Darbringung der Opfer auf den Spender selbst einen versittlichenden Einfluß Hervor­rufen. Allein trotz aller tiefen Symbolik und ohngeachtet aller Mühe, mit der man das Opferwesen aus seiner Heidnischen Sphäre herauszuheben suchte, konnte es seinen Ur­sprung nicht verleugnen und blieb allezeit ein Fremdkörper, der dem inneren Wesen des Judentums widersprach. Das zeigen schon die heftigen, aber vergeblichen Rümpfe der Propheten, welche in ihrem Bemühen, das jüdische Opferwesen vor dem wieder- hinabsinken auf die Stufe heidnischer Ent­artung zu bewahren, sich ebenso scharf gegen diese selbst, wie gegen das gesamte Opser- wesen überhaupt aussprachen und die hohe Anschauung zum Ausdruck brachten:wir wollen statt der Farren unsere Lippen weihen!"Liebe verlange ich, nicht Opfer!"; so Hosea und andere bekannte Stel­len bei den Propheten und s)salmisten. Vor allem sind es jedoch zwei Tatsachen,

welche erweisen, wie wenig der Opferritus innerlich tritt dem Judentum zusammen­hing: die eine, daß gerade in der Zeit, da er fehlte, im babylonischen Exil, die religiöse Wandlung vor sich ging, die andere, daß, als mit dem Fall des zweiten Tempels der Gpferkultus überhaupt aufhörte, das Judentum in seinem religiösen Bestand da­durch nicht erschüttert wurde, sondern seine religiöse Entwicklung auch ohne jene scheinbar unersetzliche Religionsform fortführte. Rlar erkannten die Talmudlehrer als würdige Fort­setzer der prophetischen Gedanken, daß das Judentum den Opferkult entbehren könne. Schon die Lehrer des ersten Jahrhunderts, in welchem der Opfertempel fiel, setzten die Beschäftigung mit der heiligen Lehre, das Gebet, die Ausübung von Recht und Liebe den Opfern gleich; Lehrer der beiden fol­genden Jahrhunderte gingen noch weiter und sprachen es offen aus, daß alles dies vor­züglicher und verdienstvoller sei. als Opfer. Es war ein Fortschritt über den Gpferkultus hinaus. In klarer Erkenntnis der Unverträglichkeit dieser Art der Gottes­verehrung mit dem Wesen des sittlichen wo- notheismus stieß das Judentum den letzten Anklang an die alte heidnische Welt, in deren Witte es einst aufgeblüht war, von sich ab und überließ diesen Rest dem neu erstandenen Thristentum, welches die Lseiden- welt für sich gewinnen wollte und dem­gemäß konsequent die alte Opferidee in er­neuter Gestalt als Mittelpunkt seines Glau­bens ausbildete.