Oberelles Judentum

ITlonatsfchrift

für die religiöfen Intereffen des Judentums

herausgegeben von der

Vereinigung für das liberale Judentum in Deuffdiland

unter der Redaktion von Dr. Caefar Seligmann, Rabbiner in frankfurt a. Hl.

No. 6. Jahrgang 4. Juni 1912.

Liberalismus und Religionsgefefj.

Von Hermann üogelftein.

egen die liberalen Bestrebungen wird oft I geltend gemacht, daß wir nur abschaf­fen, nur ein Bequemlichkeitsjudentum kon­struieren wollen, daß schließlich nichts mehr vom Judentum übrig bleibe; denn für diese Tendenz gebe es keinen s)unkt, an dem Halt gemacht werden könne. Allerdings seien die alten Formen nicht mehr in der alten Weise aufrecht zu erhalten; aber darin liege eben eine drohende Gefahr für das Judentum. Die Begründung der Vereinigung für das liberale Judentum ist von manchen dahin ge­deutet ^worden, als sollte nun alles spezi­fisch Jüdische beseitigt werden. Darum be­kämpfen viele unsere Bestrebungen, obgleich sie selbst sich über das Zeremonialgesetz hin­wegsetzen und lediglich aus diesem Grunde für sich in Anspruch nehmen als liberal zu gelten. Rann man denn, so lautet ein gut verbürgter Ausspruch, noch liberaler sein, als daß man Schweinebraten ißt? Mir selbst ist es vor einigen Monaten passiert, daß ein seiner Intelligenz und Bildung nach den höchsten Rreisen angehörender Mann die Frage gestellt hat, wozu denn eigentlich die liberale Vereinigung begründet sei, weshalb sie den Leuten, die daran festhalten wollen, das Roscheressen, die hebräischen Gebete, den Sabbat und die übrigen traditionellen Ge­

bräuche nehmen wolle. Diese Leute ver­stehen es darum gar nicht, daß Rabbiner der liberalen Vereinigung angehören oder gar eine führende Stellung einnehmen; ihnen ist Liberalismus mit religiöser Gleichgiltigkeit identisch, liberal und fromm, sind ihnen Gegensätze, sie sprechen vonfrommer" Wirtschaft undfrommen" Brötchen, und ein Schinkenbrot ist ihnen das Rennzeichen der Aufklärung", d. h. der Religionslosigkeit.

In diesen Blättern braucht die Verkehrt­heit solcher Anschauung kaum erst besonders betont zu werden. Der Liberalismus, der in nichts weiter besteht als in der Beseitigung des religiösen Zeremonialgesetzes, verdient seinen Namen nicht. Und vollends liegt der liberalen Bewegung und der Vereinigung für das liberale Judentum jede Unduldsamkeit als dem Grundprinzip des Liberalismus widersprechend, völlig fern. Der Liberalis­mus verfolgt vielmehr positive Ziele. Die Wiedereroberung der modernen Juden für die jüdische Religion, die Durchdringung mit religiösem Denken und Empfinden, die Neu­belebung der Religion ist unsere Aufgabe. Dabei ist natürlich die Frage, welche Stel­lung wir zu den religiösen Formen einneh­men, nicht zu umgehen, vielmehr muß grundsätzlich einmal wenigstens skizzenhaft