liberales Judentum

monafsfdirift

für die religiösen Interessen des Judentums

herausgegeben von der

Vereinigung für das liberale Judentum in Deutfdiland

unter der Redaktion van 0r. Caefar Seligmann, Rabbiner in Frankfurt a. JTl.

No. 8. Jahrgang 4. Huguft 1912.

Unsere Stellung zum Religionsgeletj.

Von Dr. Max 5reudenthal.

ie nachfolgenden Ausführungen bedeu­ten kein festgelegtes Programm; sie sol­len ' vielmehr Richtpunkte für eine ein­setzende Diskussion, Ordnungsschemata für die erst noch zu gewinnende programma­tische Stellung der Vereinigung für das liberale Judentum zum schwierigsten Teile der religiösen Frage, zum Religions­gesetz, abgeben. Gerade hinsichtlich des Religionsgesetzes, seiner Notwendigkeit und 'seines Umfanges, gehen in den liberalen Kreisen die Anschauungen am aller­weitesten auseinander, und die Erörterungen laufen zumeist auf die gegensätzliche Be­handlung von tausend Einzelheiten hinaus, ohne daß erst die allgemeinen Grundlagen festgestellt worden sind und die zur Einzel- diskussion Unentbehrliche Plattform geschaffen wird. Im Folgenden ist versucht, einen solch allgemeinen Boden aufzudecken, auf dem sich vielleicht dann ein Programm aufbauen und die Entscheidung auch über Einzelheiten ge­winnen ließe. Es ist selbstverständlich, daß nicht Lvillkürlichkeiten, sondern wissenschaft­liche Anschauungen dieser Beurteilung des Religionsgesetzes zugrunde liegen.

I. Das Religionsgesetz war niemals etwas Starres, Festliegendes, sondern von jeher in ständiger Entwickelung begriffen. Die

äußeren Verhältnisse, die wechselnden Volks­gebräuche (Rilinhagim), das veränderliche Volksbewußtsein, die mannigfachen geistigen Strömungen, der, Einfluß der Umgebung haben es in fortwährendem Fluß erhalten. Auch das Religionsgesetz in' der Bibel ist eine Etappe dieser Entwickelung, die Fixie­rung einer vorausgegangenen und der Grundstock einer neu beginnenden Be­wegung. Biblisches und talmudisches Reli­gionsgesetz lassen sich deshalb nicht, wie früher üblich, auseinandernehmen und in der Betrachtung abwägen oder einander ent­gegenstellen. Die gesamte religionsgesetzliche Entwicklung bis heute ist vielmehr als ein ein­ziges gewordenes Ganze in Betracht und Be­urteilung zu ziehen.

II. Ein einheitlicher Grundsatz zur Beurteilung der Verbindlichkeit eines aus so verschiedentlichen (Quellen geflossenen und auch inhaltlich so verschiedenfachen Ganzen läßt sich naturgemäß nicht aufstellen. Die bis­herige religionsgesetzliche Entwickelung ins­gesamt abzulehnen oder als neben­sächlich und gleichgültig für die liberale An­schauung zu bezeichnen, geht nicht an, da jene den geschichtlichen Ausdruck des jüdisch-religiösen Gebens darstellt, und da sie auch an sich als notwendige prak-