überdies Judentum
mönatsfchrift
für die religiöse Erneuerung des Judentum
herausgegeben van der
Vereinigung für das liberale Judentum in Oeutfchland
unter der Schriftleitung van Dr. Caefar Seligmann, Rabbiner in frankfurt a. III.
No. 7—9. Jahrgang 1Z. Juli bis September 1921.
Vom Wefen des Judentums.
(Zum VersöHnungsiage.)
Von Rabbiner Dr. Norden (Elberfeld).
Wir nähern uns dem Tag der Selbstprüfung und. der Selbsterkenntnis, dem Tag der Wahrhaftigkeit und-der Aufrichtigkeit. An ihm ziemt es sich, mit besonderem Ernst und m.it unbedingter Aufrichtigkeit über Juden ,und Judentum zu reden. Man sagt uns immer: Wir sollen gute Juden sein, sollen uns im Leben als Juden' bewähren, sollen jü- > dische Gesinnung Pflegen und jüdische Eigenart wahren. Dazu ist aber vor allem nötig,
| daß Klarheit darüber herrscht, was denn nun eigentlich das Wesen des Judentums ist. Gerade darüber herrscht leider in weitesten Kreisen die größte Unklarheit.
Für zahlreiche Juden besteht das Judentum in einer möglichst großen Menge äußerer Bräuche und Vorschriften. Und an die Spitze dieser Bräuche und Vorschriften stellen sie die über Speise und Trank. Wenn sie das Wort „jüdisch" gebrauchen, sofort denken sie an Essen und Trinken, an Küche und Keller. Den Speisegesetzen gegenüber tritt bei. ihnen alles , andere in den Hintergrund. Wer sie befolgt, gilt ihnen als „fromm" und gottesfürchtig,- wer nicht mehr an ihnen hängt, hat für sie aufgehört, ein guter-Jude zu sein. Sie sonnen sich in ihrer Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit und nehmen sich das Recht heraus, über diejenigen abfällig zu urteilen, die eine andere und häufig viel höhere Auffassung vom Judentum haben. Durch das unaufhörliche Hervorheben der Speisegesetze, durch l -das fortwährende Verbinden des Wortes „jü
disch" mit Essen und Trinken haben sie dem Judentum bei seinen Verkleinerern die spöttische Bezeichnung „Küchenreligion" eingetragen. Wir aber sind fest entschlossen, diesen Spott nicht auf uns sitzen zu lassen. Wir werden den Spöttern immer wieder sagen, daß die Speisevorschriften ohne Zweifel als ein gutes Erziehungsmittel angesprochen werden dürfen, daß sie aber niemals das Wesen des Judentums ausgemacht haben, daß das Essen und Trinken nach rituellen Bräuchen niemals gleichbedeutend gewesen ist mit „ein guter Jude sein." Denjenigen Juden aber, welche glauben, daß den Zeremo- nialgesetzen im allgemeinen und den Speisegesetzen im besonderen auch in der Gegenwart und für alle Zukunft eine hohe Bedeutung zukommt, ihnen sagen wir: Laßt euch von Niemandem in eurer Ansicht stören, sondern handelt so, wie euer Gewissen es euch vorschreibt. Aber störet auch ihr die Andern nicht in ihre.r Anschauung, wenn sie sich ihre Anschauung durch gewissenhaftes Nachdenken erworben haben. Maßet euch nicht an, über Andere zu Gericht zu sitzen: Die Zeiten der religiösen Verketzerung sind unwiederbringlich dahin. Die Frage der jüdischen Zeremonialgesetze ist eine schwierige Frage, die nicht im Handumdrehen gelöst werden kann. Eins aber steht fest: ihre Befolgung kann niemals den geeigneten Maßstab abgeben für den Grad jüdischer Gesinnung. Denn sie haben niemals gebildet und sie werden niemals bilden den Kern und das Wesen unseres Judentums.