42 Rabbiner Dr., Norden-Elberfeld: Vom Wesen des Judentums
Eine andere Auffassung vom Judentum hat sich dadurch herausgebildet, daß wir Juden seit jeher einen Abwehrkampf haben führen müssen. Daher glauben manche irrtümlicherweise, dasWesendesIudentums bestände in der Abwehr feindlicher Angriffe. Empört über die ewigen Ungerechtigkeiten teils boshafter, teils kurzsichtiger Gegner, setzen sie sich zur Wehr. „Wir dürfen uns nichts gefallen lassen, sagen sie, und leben so eine Art Trotzjudentum. Daß sie auf ihr Judentum nichts wollen kommen lassen, ist sicherlich ehrenhaft und anerkennenswert. Ist es aber richtig, daß sie in der Abwehr . aufgehen? Und wenn einmal die Angriffe, wie wir doch hoffen, sich mindern und schließlich aufhören werden, hat dann das Judentum seine Daseinsberechtigung verloren? was bindet dann die bloßen Trotzend Äbwehrjuden noch an ihr Judentum? ' Wiederum eine andere Auffassung erblickt das Wesen des Judentums in dem nationalen Gedanken. „Wir sind ein Volk wie andere Völker," sagen die national- jüdisch gerichteten Juden. „Was dem Deutschen sein Deutschtum, das ist uns unser Judentum. Wir sind ein Volk wie andere Völker; darum wollen wir, gleich ihnen, unser eigenes Land, unsere eigene Spräche, unsere eigenen staatlichen Einrichtungen. Das alles haben wir einst besessen; wir wollen es wieder besitzen. Der Zustand, in dem wir leben, Der Zustand der Zerstreuung unter die Völker der Erde, ist ein ungesunder Zustand, ein Ausnahmezustand. Aus diesem Zustand sehnen wir uns hinaus; wir wollen wieder gesund werden, und wir hoffen es zu werden, wenn wir erst das Land unserer Väter wieder unser eigen nennen können. Das scheint uns der richtige Weg zur Beseitigung der Iudenfrage und - damit der Iudennot, des Iudenelends." Die Juden, die so sprechen, stehen m. E. auf einer viel höheren Warte als die blinden Anbeter des Zeremonialgesetzes und als die Juden der bloßen Abwehr. Aber auch dieser Auffassung gegenüber ist die Frage berechtigt: Liegt in dem nationalen Gedanken der Schwerpunkt des ; Judentums? haben wir in ihm seinen Kern gefunden? Nein, auch das Nationale erschöpft das Judentum nicht; es macht nicht sein Wesen aus.
Es war vor tausenden von Jahren, da erging der göttliche Ruf an Abraham, den ^ Vater unseres Stammes: „Ziehe fort 'aus deiner Heimat in. das Land, das ich dir zeigen werde. Ich will dich- zu einem großen Volke machen, und durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde." Wo ist noch einmal einem Volke eine solche Verheißung geworden, wo noch einmal einer Na-. tion eine solche Aufgabe zuerteilt, die Verheißung, die Aufgabe, der gesamten Menschheit ein Segen zu werden? Und jene Verheißung an Abraham ist nicht etwa eine einmalige, gelegentliche Aeüßerüng. Nein, sie wiederholt sich bei Isaak, sie wiederholt sich bei Jakob, und, in andere Worte gekleidet, findet sie sich bei Mose wieder, wenn er seinem Volke die Aufgabe zuweist, ein auserwähltes Volk, ein heiliges Volk, ein Priester Volk zu sein. Diese Bezeichnungen und Bemerkungen, die im jüdischen Schrifttum immer wiederkehren^ zeigen uns das wahre Wesen des Judentums, seinen wahren Kern. Wir glauben an eine besondere Aufgabe, «^ eine besond.ere Bestimmung, an eine besondere Sendung des Judentums. Wir glauben, daß diese Aufgabe eine religiöse ist, daß das Judentum eine Antwort geben soll auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, eine Antwort auf die Frage nach Gott und Welt, und zwar eine solche Antwort, die nicht nur ihm selbst, sondern der ganzen Menschheit zu dauerndem Segen gereichen muß.
Daß dieses Suchen nach Gott, dieses Nachdenken und Grübeln über die höchsten und heiligsten Menschheitsfragen das Wesen des Judentums ausmachen, das zeigt uns u. ä. eine besonders bezeichnende Bibelstelle, die wir alljährlich am Nachmittag des Jom Kippur lesen. Der Prophet. Jona wird auf dem Schiff von seinen Mitreisenden gefragt: „Was ist dein Beruf?: woher kommst du? wie heißt dein Land? von welchem Volk bist du?" Da gibt er ihnen zur Antwort: „Ein Hebräer bin ich, und den Ewigen, den Gott des Himmels verehre ich, der das Meer und das Festland geschaffen hat." Eine eigenartige Antwort! Die, Mitreisenden fragen nach Jonas Heimat und Beruf. Auf die Frage